Katholische Kirche:"Wir stehen an der Seite der Betroffenen"

Katholische Kirche: Münchner Erzbischof Reinhard Marx am Dienstag: "Ich kann Geschehenes nicht rückgängig machen, aber jetzt und zukünftig anders handeln. Und das tue ich."

Münchner Erzbischof Reinhard Marx am Dienstag: "Ich kann Geschehenes nicht rückgängig machen, aber jetzt und zukünftig anders handeln. Und das tue ich."

(Foto: Sven Hoppe/DPA)

Ein Jahr nach dem Münchner Missbrauchsgutachten berichtet Kardinal Marx über Fortschritte bei Prävention und Aufarbeitung. Zu einer brisanten juristischen Frage schweigt er sich aber aus.

Von Bernd Kastner und Annette Zoch

Licht aus, Film ab: Die Pressekonferenz zur Bilanz "Ein Jahr Münchner Missbrauchsgutachten" beginnt ungewöhnlich. Im Stile eines Imagefilms präsentiert die Erzdiözese München und Freising, was sie nach dem Gutachten, das am 20. Januar 2022 die katholische Welt erschütterte, auf den Weg gebracht hat. Oben auf dem Podium der Katholischen Akademie in Schwabing ruckelt Münchens Erzbischof Kardinal Reinhard Marx seinen Stuhl zurecht, damit er besser sehen kann: sich selbst auf der Leinwand, wie er gesetzten Schrittes durchs Erzbischöfliche Palais läuft, untermalt von getragener Musik. "Es ist wichtig, dass wir uns der Vergangenheit stellen, anders können wir nicht den Weg in die Zukunft gehen", sagt Marx dort und zündet eine Kerze an.

Die Botschaft des Films, in dem zahlreiche Mitarbeiter der Erzdiözese zu Wort kommen, ist klar: "Wir stehen an der Seite der Betroffenen." So lautet auch der Titel einer sechzig Seiten starken Broschüre, die an diesem Tag ausliegt. "Dass die Perspektive der Betroffenen anfangs zu wenig berücksichtigt wurde, das war unser größtes Defizit. Das muss ich als Erzbischof selbstkritisch einräumen", sagt Marx. "Ich kann Geschehenes nicht rückgängig machen, aber jetzt und zukünftig anders handeln. Und das tue ich."

Konkret berichten Marx, sein Generalvikar Christoph Klingan und Amtschefin Stephanie Herrmann unter anderem von einer neuen Stabsstelle "Seelsorge und Beratung für Betroffene von Missbrauch und Gewalt". Sie wurde am 1. Juli 2022 eingerichtet und wird geleitet von Pfarrer Kilian Semel, der selbst als Kind von einem Priester missbraucht wurde.

Verpflichtende Schulungen sollen Grenzverletzungen verhindern

Unterstützt wird Semel von zwei Psychologinnen, eine weitere Fachkraft soll demnächst dazukommen. Aus ganz Deutschland riefen Betroffene bei ihm an, etwa einhundert seit Juli, berichtet Semel. Viele von ihnen seien zwischen 60 und 80 Jahre alt und hätten noch nie zuvor über den Missbrauch gesprochen. Das Angebot, einen theologischen Ansprechpartner zu haben, sei auf Anregung des Betroffenenbeirats entstanden: "Für viele Betroffene bedeutete der Missbrauch auch einen Glaubensverlust, einen Verlust der religiösen Heimat", sagt Semel.

Bereits zu Jahresbeginn startete eine neue Anlauf- und Beratungsstelle, insgesamt 316 Menschen meldeten sich dort, auch aus anderen Diözesen. Die Zahl der unabhängigen Ansprechpersonen für die Prüfung von Verdachtsfällen hat das Bistum von zwei auf drei aufgestockt. Bei ihnen sind bis Jahresende 57 Meldungen eingegangen, ein Teil habe sich auf bereits bekannte Missbrauchsfälle oder auf anderweitige Grenzverletzungen bezogen.

Christine Stermoljan, eine der beiden Leiterinnen der Stabsstelle Prävention, berichtet von Schulungen zur Verhinderung von Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt, denen sich im Erzbistum alle Beschäftigten unterziehen müssten - nicht nur Seelsorger, Lehrerinnen und Lehrer und Erzieherinnen, auch Verwaltungskräfte. Je mehr Menschen aus allen Berufsgruppen für das Thema sensibilisiert seien, desto höher sei der Schutz von Kindern und anderen vulnerablen Personen.

So positiv die Leistungsbilanz klingt, die der Erzbischof vorstellt - auf kritische Fragen antwortet Marx nichtssagend. Vor dem Landgericht Traunstein läuft derzeit eine Zivilklage: Ein Betroffener, der nach eigenen Angaben von dem notorischen Täter Peter H. missbraucht worden ist, will die Schuld der Institution Kirche an den strafrechtlich verjährten Taten feststellen lassen. Der Priester H. war über Jahre im Amt belassen worden, obwohl der Kirche seine Taten bekannt waren. Correctiv und der Bayerische Rundfunk berichteten nun, dass Marx' Erzbistum nicht auf die Einrede der Verjährung verzichten wolle. Dies teilte der Anwalt des Bistums dem Anwalt des Klägers mit, allerdings außergerichtlich. Damit ist noch nicht festgelegt, wie sich das Bistum letztlich vor Gericht verhält.

Das Problem der Verjährung

Will sich die Kirche mit Verweis auf Verjährung also juristisch aus der Affäre ziehen? Wegen des laufenden Verfahrens sage man dazu nichts, sagt Marx' Sprecher. Am Abend schickt die Pressestelle noch eine Mitteilung hinterher: Die Zitate aus der Anwalts-Korrespondenz seien unvollständig und aus dem Zusammenhang gerissen. Eine Entscheidung über die Verjährung im konkreten Fall enthalte das Schreiben nicht.

Und wie steht der Erzbischof selbst dazu? Es komme auf jeden Einzelfall an, sagt Marx, außerdem sei er kein Jurist. Und wie sieht er als Bischof und Seelsorger, losgelöst vom Traunsteiner Fall, die Verjährung von Missbrauch? Marx sagt, um dies zu beurteilen, bräuchte er Sachkenntnis, die aber habe er nicht. Dabei handelt es sich beim konkreten Fall und generell der Verjährungsdiskussion um grundlegende Fragen für die Kirche: Beruft sie sich nicht auf Verjährung, müsste sie sich womöglich in weiteren Fällen der staatlichen Justiz stellen.

In einem ähnlich gelagerten Fall hat jüngst das Erzbistum Köln auf die Verjährung verzichtet: Vor dem Landgericht Köln läuft derzeit das Zivilverfahren eines Missbrauchsbetroffenen gegen das Erzbistum Köln, das Urteil könnte Präzedenzwirkung für ganz Deutschland haben.

Die Feststellungsklage in Traunstein richtete sich nicht nur gegen das Erzbistum München und Freising, sondern auch gegen die beiden damals verantwortlichen Erzbischöfe. Kardinal Friedrich Wetter hat bereits angekündigt, sich nicht auf Verjährung berufen zu wollen. Nach dem Tod von Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI., ist nun dieser Teil des Verfahrens ausgesetzt, teilte das Landgericht Traunstein am Dienstag mit. Zuerst müsse ein Rechtsnachfolger des verstorbenen Papstes festgestellt werden.

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