Klassik:"Eine Note ist ein Lebewesen"

Klassik: Für Jörg Widmann ist die Arbeit mit dem Münchner Kammerorchester auch die Gelegenheit, mal wieder nach München zu kommen.

Für Jörg Widmann ist die Arbeit mit dem Münchner Kammerorchester auch die Gelegenheit, mal wieder nach München zu kommen.

(Foto: Florian Ganslmeier)

Der weltberühmte Komponist und Klarinettist Jörg Widmann ist einer der drei neuen Dirigenten des Münchner Kammerorchesters. Als solcher gibt er sein erstes Konzert, mit eigenen Werken und der Ersten von Mendelssohn.

Von Reinhard Brembeck

Das Münchener Kammerorchester ist das neugierigste, überraschendste und sich in allen Zeiten tummelnde Klassikensemble der Stadt. Dazu passt, dass die Truppe seit dieser Spielzeit nicht mehr wie üblich mit einem Chefdirigenten, sondern mit drei dauerhaft verpflichteten Dirigenten arbeitet, mit Enrico Onofri, Bas Wiegers und Jörg Widmann. Widmann ist weltberühmt als Komponist, Klarinettist, Dirigent und Münchner, im Juni wird er 50. An diesem Donnerstag dirigiert Widmann im Prinzregententheater erstmals als Chef, auf dem Programm stehen vier seiner Stücke sowie die dramatisch wilde erste Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdi.

SZ: Welche Vorteile hat es, wenn man als Komponist nicht nur im Kämmerchen hockt, sondern auch den Menschen gegenübersteht, die spielen müssen, was im Kämmerchen aufs Papier getröpfelt ist?

Jörg Widmann: Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war es absolut normal, dass ein Komponist mindestens zwei Instrumente gespielt und seine Werke selber dirigiert hat. Es ist dann auseinandergegangen. Plötzlich gab es den Virtuosen und den vielleicht etwas seltsamen und genialischen Komponisten, der in seiner Dachstube irgendetwas verfasst. Und auch das, was vorher nicht so wichtig war: der Maestro. Ihre Frage zielt auf einen für mich ganz wichtigen Punkt: das Physische der Musik. Eine Note ist ein Lebewesen, sie hat einen Kopf, einen Körper und ein wie auch immer geartetes Ende.

Das Kammerorchester hat jetzt drei feste Dirigenten. Was reizt sie an dieser Kombination, außer dass Sie keine Zeit haben? Schließlich verlangt man heutzutage von einem Dirigenten, dass er von Rameau bis Widmann alles kann.

(Widmann lacht) Es gibt ganz wenige, die das abdecken, ich denke da an Simon Rattle. Das ist eine bewundernswerte Ausnahme. Ich habe den Eindruck, dass die Orchester immer mehr nach neuen Formen und Modellen suchen. Für mich ist das mit dem Münchener Kammerorchester - abgesehen davon, dass wir einen wunderbar ernsthaften Kontakt und viel Freude haben - eine schöne Ausrede, wieder etwas mehr in München zu sein. Ich habe so viel von diesem Orchester gelernt, weil ich meine ersten Stücke für dieses Orchester schreiben und auch Fehler machen konnte.

Es ist also ein Heimkommen.

Ja. Ich habe 1997 mein erstes Stück fürs Kammerorchester und die Geigerin Isabelle Faust geschrieben, "Insel der Sirenen". Das war auch mein erstes Geräuschstück mit Klängen, die ich bisher nie verwendet hatte. Dann haben wir uns etwas aus den Augen verloren. Wir haben uns vor einigen Jahren wiedergefunden mit der Reformationssinfonie von Mendelssohn, das war sehr beglückend. Es ist zu viel, wenn ich sage: Ich habe eine Mission mit Mendelssohn. Aber er ist mir schon sehr nahe.

Was ist das Besondere an diesem Orchester?

Eine Breite und Wachheit findet man hier, eine Vielseitigkeit und Informiertheit. Sie haben hier Leute, die in Alte-Musik-Ensembles spielen, in Neue-Musik-Ensembles. Man hört selten in einer ersten Probe eine solche Qualität.

Dass das Kammerorchester regelmäßig neue Musik spielt, unterscheidet es ja von allen anderen Orchestern.

Man kann es konkret bei neuen Spieltechniken sagen, wo man manchmal etwas erklären muss. Denen hier ist alles vollkommen klar. Da habe ich allerdings auch mit anderen Orchestern sehr viel Glück gehabt, weil ich etwa sehr, sehr früh mit dem SWR-Sinfonieorchester arbeiten durfte. Als ich 2001 mein erstes Stück für Donaueschingen geschrieben habe, da habe ich an einer bestimmten Stelle einen Kratzklang verwendet. Dann stand der Konzertmeister in der ersten Probe auf und sagte: "Herr Widmann, wir können Ihnen diesen Klang in folgenden Varianten anbieten." Ich habe gedacht, ich höre nicht recht, das war wie Weihnachten.

Aber es gibt Komponisten, bei denen jeder Ton eine andere Spieltechnik erfordert. Beispielsweise Marc Andre, mit dem hat auch dieses Orchester viel Mühe gehabt hat.

Ich habe mit Mark Andre viel gearbeitet. Das ist das Spannende: Wir haben auf der Klarinette gemeinsam Klänge entwickelt, die auch ich vorher nicht kannte, weil es sie vorher nicht gab. Wir haben wie Kinder gestaunt. Er kann bei so etwas unerhörtem ja verbal kaum formulieren, was er möchte. Ich habe erstmal nur gespielt. Irgendwann hat er sparsam etwas notiert, dann habe ich wieder probiert. Irgendwann haben wir gemeinsam Klänge entdeckt, die es wirklich nicht gab. Selbst wenn hier beim Kammerorchester einige dabei sind, die die Klänge nicht kennen, dann ist da diese tolle Neugierde, dass man es erstmal probieren möchte.

Inwiefern wirkt Ihre Erfahrung als Dirigent und Klarinettist auf Ihr Komponieren zurück? Schränkt es Sie ein, weil Sie genau wissen, was geht und wo die echten Probleme beginnen?

Diesen profunden Zweifel kenne ich sehr gut. Ich hatte 1997 genau diese Phase, als ich beim Komponieren den Eindruck hatte, dass wenn ich ein Klarinettenstück schreibe, ich nur das schreibe, was gut liegt. Dann habe ich einen Bruch, ein Ding der Unmöglichkeit versucht: zu vergessen, was ich über die Klarinette weiß und übers Klavier. In "Fünf Bruchstücke" habe ich dann im Wortsinne das Instrument auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Das war für mich ganz wichtig. Aber das wichtigste, das alles verbindet, wenn ich beim Komponieren sitze: Ich atme. Genauso beim Dirigieren. Es geht gar nicht anders. Wenn die Bläser einen Einsatz haben, kann ich physisch gar nicht anders. Auch das kommt vom selber Spielen.

Haben die Klarinettisten der Orchester, die Sie dirigieren, Angst vor Ihnen?

(Widmann lacht) Im Gegenteil. Sie kommen oft schon vor der Probe her und freuen sich und sagen mir, dass sie meine Solostücke gespielt haben. Aber ja, ich spüre manchmal Angst. Ich arbeite insistierend, aber ich versuche zu ermuntern.

Immer wieder hört man bei Aufführungen manche Instrumente gar nicht, obwohl sie viel zu tun haben. Etwa das Fagott bei Beethoven.

Das ist einer der Gründe, warum ich zu dirigieren angefangen habe: Ich lese in der Partitur etwas anderes, als ich höre. Hier bei Mendelssohn gibt es eine Stelle, da muss man das Orchester zurückfahren. Er will ein Crescendo poco a poco, also ein stufenweises Lauterwerden, aber wenn man das macht, dann wird man das Fagott nie hören.

Ein Stück entwickelt sich immer nach einer musikalischen Logik, deshalb kann es vom Hörer verstanden werden. Ist diese Logik, diese Art sich verständlich zu machen, nicht bei allen Komponisten vom Mittelalter bis zur Moderne die gleiche?

Ja. Wenn Sie Robert Schumann nehmen: Das klingt oft in einer ersten Probe grau. Man denkt dann, wie es ja auch geschehen ist: uminstrumentieren! Meine Erfahrung aber ist, wenn man wirklich macht, was er will, dann liegt am Ende eines Probenprozesses alles klar da. Schumann macht auf eine seltsame Art und Weise es sich selbst und uns Interpreten schwer. Da muss man graben und arbeiten, damit das herauskommt.

Aber in diesem Verqueren liegt etwas für Schumann Wesentliches, er zerschlägt eine Welt.

So auch in den späten "Geistervariationen": Da stehen die Taktstriche richtiggehend im Weg. Ein anderer Komponist hätte es angeglichen. Aber nein, Schumann lässt es stehen. Bei so etwas hat ihm sein Freund Mendelssohn unglaublich geholfen, indem er es ihm ermöglicht hat, seine Stücke zu hören. Dann haben sie sich oft danach zusammengesetzt, und Mendelssohn hat gesagt: "Robert, pass mal auf bei dieser Stelle, überleg doch noch einmal." Bei Mendelssohn merkt man, dass er jede Woche und fast jeden Tag vor einem Orchester stand. Das spürt man in seiner Musik.

Erstaunlich in der Ersten von Mendelssohn ist im Finale, dass er ein Fugato schreibt, bei dem kurz hintereinander immer wieder die gleiche Stimme in verschiedenen Instrumenten einsetzt. Das war schon damals etwas aus der Zeit Gefallenes, das an Johann Sebastian Bach und seinen Kontrapunkt erinnert.

Dieser Bach'sche Kontrapunkt hat beide interessiert, Schumann wie Mendelssohn. Ich habe den Eindruck, dass das bei Mendelssohn fast die persönlichsten Stellen sind. Bei ihm blüht das. Es gibt ja so viele akademische Fugati, wo man nach ein paar Sekunden weiß: Es wird jetzt so und so weitergetrieben werden. Auch bei Mendelssohn denkt man erst: Jetzt weiß ich, wo ich bin. Dann aber kommt eine überraschende harmonische Wendung, die nicht erwartet wird. Das kommt von Mozart her und genau für diesen glühenden Kontrapunkt bei Mendelssohn brenne ich.

Widmann, Kasai und das MKO, 4. Abokonzert der Saison, Donnerstag, 26. Januar, 20 Uhr, Prinzregententheater

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