"Petrov's Flu":Schweiß, Tränen und Wodka

"Petrov's Flu": "Petrov's Flu" ist ein Film gewordener Fiebertraum.

"Petrov's Flu" ist ein Film gewordener Fiebertraum.

(Foto: Sergey Ponomarev/picture alliance/dpa/Razor Film/)

Der Regisseur Kirill Serebrennikow, von Putin drangsaliert, erzählt in seinem neuen Kinofilm von einem postsowjetischen Albtraum-Russland.

Von Annett Scheffel

Erst die Grippe im Titel und dann die hustenden und keuchenden Menschen in der überfüllten Jekaterinburger Straßenbahn in der Eröffnungsszene. Ein Pandemiefilm? Nein, nicht schon wieder. Aber halt, bitte nicht zu vorschnell! Denn schon ein paar Augenblicke später wird klar: Kirill Serebrennikows neues Werk ist von ganz anderer Gestalt - und was das Coronavirus angeht höchstens eine düstere Vorahnung (gedreht wurde von Oktober 2019 bis Januar 2020). Die Grippe, von der Serebrennikows Titelheld und dessen Familie geplagt wird, ist für den Regisseur nur narratives Werkzeug: Ihm geht es um den Fieberwahn. Um seine disruptive Kraft. Um die Auflösung von Realität, Alltag, Status quo.

Die Handlung ist deshalb nicht ganz einfach zu erklären. Petrov ist ein abgespannter Comiczeichner, der - die meiste Zeit halluzinierend und stockbesoffen - durch befremdliche, postsowjetische, urbane Albtraum-Landschaften irrt. Schauplatz ist ein Russland der desillusionierten Säufer und bröckelnden Fassaden. In der Straßenbahn lauscht Petrov einer gemurmelten Tirade, das Land sei kaputt, von "Gorby" ruiniert, von Jelzin abgewickelt.

Es gibt immer einen Ausweg. Auch wenn es keinen Ausweg gibt

Viel länger hält sich der Film dann aber auch erst einmal nicht mit der Realität auf. Stattdessen wird Petrov in einem seiner Fieberträume aus der Tram gezerrt und ist plötzlich Teil eines surrealen Erschießungskommandos auf offener Straße. Seine Ex-Frau Petrova ist eigentlich Bibliothekarin, verwandelt sich zwischendurch aber in eine männermordende Superschurkin mit dämonenhaften Augen. Außerdem gibt es den ominösen FSB-Agenten Igor, der aus Spaß Leichenwagen stiehlt. Und Sergei, einen aufstrebenden Schriftsteller, der vergeblich versucht, eine seiner Geschichten an einen Verlag namens Hades zu verkaufen. Zwischendurch gleitet Petrov immer wieder in verworrene Erinnerungen an seine Sowjetkindheit in den Siebzigern hinab. Eine lange, bildstarke Schwarz-Weiß-Sequenz ist Marina gewidmet, einer jungen Frau, die auf einem Kinderfest als russische Schneejungfrau Snegurotschka auftritt.

"Petrov's Flu": Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow.

Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow.

(Foto: Ulf Mauder/picture alliance/dpa)

"Petrov's Flu" ist ein dunkles, wunderbar seltsames Ungeheuer von einem Film. Ein schwarzhumoriges Labyrinth der Absurditäten. Mit viel Schweiß und Tränen, Wodka und Dreck. Was hier Fakt ist und was Fieberwahn, wird nie ganz klar. Nichts ist echt, alles ist Trick und Kulisse, und trotzdem ist alles wahr oder zumindest von einer zutiefst subjektiven Authentizität. Serebrennikow ist ein Meister darin, sein Publikum tief in die Erlebniswelt seiner Figuren eintauchen zu lassen. Nach "Leto" (2018), der von der russischen Rockszene in den Achtzigern und der Sehnsucht nach Freiheit erzählt, beweist er mit seinem neuen Werk einmal mehr, dass er zu den größten Talenten des europäischen Kinos gehört.

Bekannt geworden ist der russische Dramaturg, Regisseur und prominente Kremlkritiker als Leiter des von ihm gegründeten Moskauer Gogol-Zentrums, bis zur Schließung Russlands führendes Avantgarde-Theater. 2017 wurde Serebrennikow unter dem Vorwand der Veruntreuung angeklagt und unter Hausarrest gestellt. 2022, einen Monat nach der russischen Invasion in der Ukraine, floh er nach Berlin, wo er heute lebt und arbeitet.

Es ist schwer, "Petrov's Flu" nicht auch vor dem Hintergrund dieser Biografie zu sehen und als Kommentar auf den Zustand seines Heimatlandes zu lesen. Serebrennikows Erzählstruktur ist kühn, die Bildsprache fantasievoll. Die Schauplätze aber sind trostlos und die Figuren auf tragische Weise in Grippefieber, Vollrausch oder Nihilismus gefangen. Sie fristen ein von der sowjetischen Vergangenheit und Gewaltfantasien durchsetztes Dasein.

Visuell ist der Film eine Wucht. In langen Kamerafahrten folgt Serebrennikow Petrov und den anderen Figuren durch ihre russische Unterwelt. Verschiedene Bewusstseinsebenen schieben sich ineinander. Manchmal vergehen ohne Schnitt von einem Moment auf den anderen Wochen oder Jahre. Wände verschwinden wie auf Theaterbühnen. Niemand verbiegt seine Filmräume dieser Tage so lustvoll und bildgewaltig wie Kirill Serebrennikov. Wenn sein Film eine Botschaft hat, dann wohl die: Einen Ausweg gibt es immer, auch wenn es keinen Ausweg gibt. Und das ist die Fantasie.

Petrov's Flu, Russland/Frankreich/Deutschland/Schweiz 2021. Regie und Buch: Kirill Serebrennikow (nach einem Roman von Alexej Salnikow). Kamera: Wladislaw Opeljanz. Schnitt: Jurij Karich. Mit: Semjon Sersin, Tschulpan Chamatowa, Juri Kolokolnikow, Iwan Dorn, Julija Peressild. Farbfilm, 145 Minuten.

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