Kolumne: Vor Gericht:Was ziehe ich an?

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(Foto: sz)

Prozesse finden meist vor Publikum statt. Manche Angeklagte nutzen das für besondere Auftritte - wie eine wegen Mordes angeklagte Mutter.

Von Verena Mayer

Gerichte, das ist einer der wichtigsten Grundsätze der Rechtsprechung, sollen ohne Ansehen der Person urteilen. Es geht um die Schuld eines Menschen und nicht darum, woher er kommt oder was er macht. Ohne Ansehen der Person bedeutet aber nicht, dass Angeklagte nicht unter Beobachtung stehen. Und dass es nicht wichtig sein kann, wie man vor Gericht aussieht.

In den USA werden große Prozesse oft live im Fernsehen übertragen. Manche Angeklagte beschäftigen daher Leute, die sie beraten, welche Outfits sie auf der Anklagebank tragen sollen. So wie die junge Mutter, die ihre kleine Tochter ermordet haben soll, um Party zu machen, und die am Ende freigesprochen wurde. Der Prozess wurde 2011 nicht nur vor einem Millionenpublikum gestreamt und kommentiert wie ein Sportereignis. Es wurde auch bekannt, dass die Verteidiger nichts dem Zufall überlassen hatten. So sorgten sie dafür, dass die Frau im Gerichtssaal unauffällige Blusen anhatte und auf einem niedrigen Stuhl saß, um kleiner und harmloser wirken.

Auch Aktivisten und Aktivistinnen nutzen Prozesse gerne als Bühne

Davon ist der deutsche Gerichtsalltag noch weit entfernt. Aber auch hier versuchen Angeklagte, die Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. So melden sich Verteidigerinnen und Verteidiger neuerdings gerne nach der Verlesung der Anklage zu Wort, um ein "Opening Statement" abzugeben. Opening Statement - das kennt man aus amerikanischen Filmen über Justizirrtümer, wenn die Anwältin im Gerichtssaal auf und ab geht und der Jury die bewegende Lebensgeschichte ihres Mandanten erzählt. In deutschen Gerichtssälen gibt es keine Jury, und es ist auch nicht vorgesehen, dass Verteidiger einen Angeklagten noch vor der Beweisaufnahme ins rechte Licht rücken. Viele Verteidiger tun es trotzdem. Am ersten Prozesstag ist oft Presse im Saal, man hat das größtmögliche Publikum für das, was man sagen will.

Und dann gibt es auch die Aktivistinnen und Aktivisten, die ihren Prozess als Bühne nutzen. Wenn junge Leute angeklagt sind, die für das Klima eine Straße blockiert haben, kann man sich sicher sein, dass vor dem Gerichtsgebäude eine größere Demonstration stattfindet und der Zuschauerraum voller Sympathisanten ist. Als die Influencerin Gina-Lisa Lohfink 2016 zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil sie zwei Männer fälschlicherweise einer Vergewaltigung bezichtigte, trat sie jedes Mal, bevor sie in den Gerichtssaal ging, vor die Kameras und sprach sich dafür aus, dass das deutsche Sexualstrafrecht reformiert werden müsse.

Manchmal sind Auftritte von Angeklagten fast schon filmreif. So wie die drei jungen Männer, die in Berlin vor Gericht standen, weil sie eine hundert Kilogramm schwere Goldmünze aus dem Bode-Museum gestohlen haben sollen. Als die drei sich 2019 den Weg durch die versammelte Weltpresse bahnte, hielten sie sich Zeitschriften vors Gesicht. Eine trug den Titel "Wissen und Staunen". Wissen und Staunen - darum geht es vor Gericht tatsächlich sehr oft.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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