Leben im Alter:"Da bleiben viele Stunden, in denen die Menschen alleine sind"

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Sonja Herrmann leitet die "Fachstelle für pflegende Angehörige West" in Inning am Ammersee. Sie bedauert den Rückgang des ehrenamtlichen Engagements und klagt: "Die Leute wollen sich nicht mehr binden." (Foto: Georgine Treybal)

Die Pflegedienste können heute oft nur das Nötigste leisten - waschen, anziehen, Medikamente verabreichen. Und das Menschliche? Das übernehmen Einrichtungen wie die Inninger Nachbarschaftshilfe - sofern sie denn können. Denn auch dort fehlt es an ehrenamtlichen Helfern.

Interview von Paul Wiese, Inning

Das Ehrenamt ist out - so scheint es zumindest, wenn man mit Sonja Herrmann von der "Fachstelle für pflegende Angehörige West" spricht. "Die Leute wollen sich nicht mehr binden", berichtet sie aus ihren Erfahrungen mit Alltagsbegleitern, also Menschen, die stundenweise zu älteren Leuten und Bedürftigen nach Hause kommen, um sie im Alltag zu unterstützen. Herrmann klagt über eine massive Versorgungslücke, obwohl die Tätigkeiten - Spazierengehen, Spülmaschine ausräumen, Gespräche führen - nicht anspruchsvoll sind. Überwiegend sind die Helfer selbst im Rentenalter, deshalb scheiden immer wieder welche aus. Wie sie die Menschen von einem Engagement überzeugen will, was sie von der Politik fordert und welche Auswirkungen fehlende Unterstützung auf das gesellschaftliche Zusammenleben hat, erzählt Herrmann im Interview.

SZ: Frau Herrmann, haben die Leute keine Lust mehr auf Ehrenamt?

Sonja Herrmann: Es sind überwiegend Rentnerinnen, die diese Tätigkeit machen. Viele von ihnen möchten sich nicht mehr binden, weil sie in ihrer Rente lieber flexibel sind - oder eben noch im Berufsleben. Das ist natürlich verständlich. Und viele müssen sich im Alter auch Geld dazuverdienen. Es gibt bei uns zwar eine Aufwandsentschädigung von zehn Euro in der Stunde. Aber wir können keine bestimmte Summe im Monat garantieren, weil die Einsätze flexibel sind. Auch Jüngere, gerade Schülerinnen von 16 Jahren an, könnten schon Einsätze machen. Bei denen haben wir aber keinen Erfolg.

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Ist für die Betreuung älterer Menschen nicht eigentlich der Pflegedienst zuständig?

Die Pflegedienste können im Moment nur noch die tatsächliche Pflege leisten: Waschen, anziehen, Tabletten geben. Die Einsätze sind kurz. Es gibt inzwischen zwar Dienste, die längerfristige Betreuung anbieten, aber das Angebot ist sehr teuer. Unsere niederschwelligen Angebote werden über das Ministerium und die Pflegekassen gefördert. Dadurch können wir sie sehr günstig anbieten.

Welche Voraussetzungen sollte man als Alltagsbegleiter mitbringen?

Ein paar Kriterien gibt es. Menschen, die rein den Verdienst sehen, können wir nicht nehmen. Da kommt es nur zu Unzufriedenheit. Wenn Menschen selbst sehr belastet sind, ist das auch ein Ausschlusskriterium. Wenn man zum Beispiel Demenzkranke betreut, braucht man ein stabiles seelisches Gerüst. Konkret sollte man außerdem neugierig und empathisch sein, ältere Menschen lieben und aufgeschlossen für Neues sein.

Was gehört genau zu den Aufgaben?

Pflegerische und rein hauswirtschaftliche Tätigkeiten sind ausgeschlossen. Sie werden da tätig, wo es um kleine Hilfestellungen geht: einkaufen gehen oder mal die Spülmaschine anmachen. Für viele ist es ein Lichtblick, wenn einmal in der Woche die Helferin kommt und zum Reden da ist. Manche gehen gemeinsam in ein Café oder fahren zum See. Es geht darum, dass man einfach am Leben teilhaben kann.

Wer Alltagsbegleiter werden will, muss vier Tage einen Kurs bei der Nachbarschaftshilfe machen. (Foto: Georgine Treybal)

Sie schulen die Alltagsbegleiter für ihre Einsätze.

Genau. Damit die Bedürftigen die Stunden mit der Krankenkasse abrechnen können, müssen die Begleiter einen Kurs machen. Das verlangt das Ministerium. Bei uns sind das vier volle Tage. Wir bieten die Schulungen hier kostenlos an, aber die Teilnehmer müssen die Zeit mitbringen.

Was lernen die Ehrenamtlichen dort?

Wir geben einen Einblick in Krankheitsbilder, die im Alter vorkommen können und geben Aktivitäten an die Hand, die man mit den Leuten machen kann. Auch aus dem rechtlichen und hauswirtschaftlichen Bereich - Hygiene und Ernährung im Alter - gibt es Informationen. Das ist sehr umfassend. Dazu gibt es zwei Fortbildungen im Jahr, zu denen sich die Alltagshelfer verpflichten, jeweils einen halben Tag.

Welchen Vorteil hat es ansonsten, Alltagsbegleiter zu sein?

Für einen selbst ist das eine Bereicherung, man erfährt viel über das eigene Leben. Und oft kommt von den Alten viel Dankbarkeit zurück. Es ist wohltuend, etwas Sinnvolles zu geben. Manchmal sagen Menschen: "Ich habe selbst so viel Hilfe bekommen, das möchte ich gerne weitergeben."

Werben Sie für das Ehrenamt, um dem Mangel entgegenzuwirken? Oft wissen die Leute gar nichts davon.

Unsere Erfahrung ist, dass die Mund-zu-Mund-Propaganda am besten funktioniert. Wenn man im Ort gut vernetzt ist, spricht sich das rum. Zudem nutzen wir unsere Homepage, die Gemeindeblätter und jetzt neu: Facebook. Unseren Ehrenamtlichen versuchen wir zu vermitteln, wie wertvoll ihre Arbeit ist. Wir planen Feste für die Ehrenamtlichen, versuchen, Ausflüge zu machen, veranstalten Austauschtreffen mit Pizza und Rotwein oder mal ein Frühstück.

Was bedeutet es für die Seniorinnen und Senioren, wenn keiner mehr zu ihnen kommt? Bei dem Mangel ist das im Moment ja die Aussicht.

Das mag ich mir nicht vorstellen. Wenn der Pflegedienst nur eine kurze Zeit abdecken kann, bleiben viele Stunden, in denen die Menschen alleine sind. Die Angehörigen sind heute nicht mehr so nah beieinander. Wir sind auf das bürgerschaftliche Engagement angewiesen. Ohne das wird das System Pflegebetreuung nicht mehr funktionieren. In Inning haben wir das Glück, dass wir etwa 30 Helfende haben, da können wir den Bedarf noch abdecken. In anderen Gemeinden sind die Kreise oft kleiner.

Fordern Sie, die Pflegesituation zu verbessern?

Dazu tauschen wir uns bei uns im Landkreis Starnberg aus. Wir wollen mit dem Landrat in Kontakt kommen, um politisch etwas zu ändern. Meine persönliche Einschätzung ist, dass keine schnellen Veränderungen kommen. Die wird es aber brauchen. Alternative Wohnkonzepte für ältere Menschen und bezahlbaren Wohnraum für die Fachkräfte in der Pflege. Das bürgerschaftliche Engagement muss ausgebaut und ein Bewusstsein geschaffen werden, dass es uns auch selbst betrifft, wenn wir alt werden. Zu sensibilisieren, dass wir als Gesellschaft zusammenhalten, ist mir ganz wichtig.

Tun Sie sich mit den anderen Nachbarschaftshilfen zusammen, um Ihre Forderungen zu formulieren?

Ja natürlich. Wir haben Arbeitskreise, in denen Ideen erarbeitet werden. Im Moment läuft von der Fachstelle für Senioren vom Landratsamt eine Umfrage, in der die Nachbarschaftshilfen und Sozialdienste zu ihren Situationen befragt werden. Es ist schon was im Gange.

Das heißt, es gibt noch keine konkreten Projekte, sondern Sie suchen noch einen Weg?

Genau, wir sind noch in der Findungsphase. Wir sammeln die Probleme und werden im März besprechen, welche Dinge man umsetzen kann.

Die nächste Schulung für Interessierte findet am 4. und 5. März sowie am 11. und 12. März jeweils von 9 bis 17.30 Uhr statt. Um Anmeldung wird gebeten unter Telefon 08143/24 19 43 0 oder per Mail an fs.pfl.angehoerige@nbh-inning.de.

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