Literatur zur Hippie-Ära:Der Sound einer neuen Zeit

Literatur zur Hippie-Ära: Leidenschaft fürs Swinging London der Sechziger: der Münchner Autor Tiny Stricker.

Leidenschaft fürs Swinging London der Sechziger: der Münchner Autor Tiny Stricker.

(Foto: Florian Peljak)

Tiny Stricker erzählt in seinem Buch "London, Pop und frühe Liebe" vom Aufbruch der Sechzigerjahre aus Sicht eines Jugendlichen.

Von Antje Weber

In einem Skilager fängt alles an. Man kennt das vielleicht noch aus der eigenen Schulzeit: Zwei Klassen der Mittelstufe werden in einem Bus nach Österreich gekarrt, vor einer Jugendherberge ausgekippt und tagsüber zu arg viel Bewegung an frischer Luft verdonnert. Dabei sind doch vor allem die Hormone in steter Berg-und-Tal-Fahrt, was nachts zu noch mehr Bewegung und Gekicher zwischen Jungs- und Mädchenschlafzimmern führt.

Tiny Stricker hat das alles miterlebt, schon Mitte der Sechzigerjahre. Wer sein neues Buch "London, Pop und frühe Liebe" liest, staunt über die Detailgenauigkeit, mit der sich der Münchner Schriftsteller nicht nur an diese Fahrt erinnert. Vielleicht sind die Ausschmückungen aber auch nur gut erfunden, schließlich heißt bei allem bekannten Hang Strickers zur Autofiktion der Ich-Erzähler hier nicht Tiny, sondern Henry.

Henry also, Schüler aus L. (was, wer mag, als die bayerisch-schwäbische Kleinstadt Lauingen deuten könnte), fühlt sich recht unbehaglich angesichts der Aussicht auf eine Woche unter der Fuchtel des ihm nicht gerade wohlgesonnenen Skilehrers. Die Sorge ist straftechnisch gesehen verständlich, lebensgeschichtlich betrachtet jedoch unbegründet. Denn das Skilager verschafft Henry die Begegnung mit einer grazilen Engländerin namens Catherine, die zwar nicht in einen Kuss mündet, doch immerhin in eine Brieffreundschaft. Die Briefe wiederum münden in eine Einladung nach London, was zwar auch nicht gleich Küsse nach sich zieht, dafür aber die Initiation in eine vibrierend fremde Welt: Swinging London, eine Stadt im Rhythmus der (Pop-)Musik, im fließenden Übergang in die Hippie-Ära.

Tiny Stricker hat über diese Ära bereits einige Bücher geschrieben; sein Debüt "Trip Generation" machte den einstigen Beatnik in den Siebzigern zum Kultautor, und auch "Soultime" oder "Unterwegs nach Essaouira" kreisen um die Zeit um 1968. "London, Pop und frühe Liebe" ist nun eine Art Vorläufer dazu. Ein Schüler, der mit Hilfe der Musik und Reisen nach London den bürgerlich beengten Verhältnissen zu Hause entkommen will - das erinnert thematisch auch an den Roman "Die wilde Wut des Wellensittichs", mit dem der Münchner Kollege Peter Probst die Siebziger beschrieb. Bei Stricker jedoch sind es die Sechziger, was vor allem eines bedeutet: Der Grundton ist ähnlich, die Musikauswahl eine andere.

Wie wichtig es damals - und bis heute - ist, als Jugendlicher die einzig richtige Musik zu hören und sich damit von den übrigen Banausen abzusetzen, machen schon die Plattencover deutlich, die in Farbe über die Seiten verstreut abgebildet sind. Von Ray Charles über die Beach Boys oder die Kinks bis hin zu Yusef Lateef reichen die Referenzen, und alle Songs werden von den Jugendlichen, ob in der Schule im kleinen L. oder beim Sommerurlaub im großen London, natürlich kennerhaft kommentiert.

Mit Humor und Empathie erzählt

Das alles liest sich, auch wenn man nicht in den Sechzigern sozialisiert wurde, sehr unterhaltsam. Was daran liegt, dass Tiny Stricker stilsicher und soghaft schreibt und einiges an Humor und Empathie für die Verhaltensauffälligkeiten pubertierender Jungs mitschwingen lässt. Seine Beschreibungen mancher Klassen-Nerds etwa sind wohl generationsübergreifend treffend; Henry bewundert zum Beispiel einen gewissen "Meyer", der beim Skilager aus Protest in Cordsamthosen und Desert Boots auf die Skier steigt, Sigmund Freud liest und nur entlegenen Jazz goutiert.

Und was wird nun aus Henrys erster Liebe zu Catherine? Das ist in diesem Buch letztlich nicht so wichtig wie das keimende Lebensgefühl, Teil eines Aufbruchs zu sein. Bei einem gemeinsamen Besuch des Londoner Hyde Parks zum Beispiel, als auf einer Wiese die frühen Blumenkinder zu bestaunen sind: "Sie schienen in einer Art Trancezustand zu sein oder auf dieser Wiese wie auf einer grünen Wolke dahinzufliegen", schreibt Stricker. "Tatsächlich streichelten einige das Gras, als ob sie leicht abheben würden." Etwas Neues geht hier los, und es wird groß sein.

Tiny Stricker: London, Pop und frühe Liebe, Verlag P. Machinery 2022, 132 Seiten, 13,90 Euro

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