SZ-Kulturpreis Tassilo:Die Traumwerker lassen sich nicht abservieren

SZ-Kulturpreis Tassilo: Sibylle Madadkar und Katharina Zörner (von links) träumen von einem Inklusionscafé.

Sibylle Madadkar und Katharina Zörner (von links) träumen von einem Inklusionscafé.

(Foto: Catherina Hess)

Der Gräfelfinger Verein will ein Café eröffnen, in dem Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam arbeiten. Einmal war das Projekt schon sehr konkret, doch dann scheiterte es an Corona. Aber die Initiatorinnen geben nicht auf.

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Das Haus, das Sibylle Madadkar vor mehr als zehn Jahren aufgezeichnet hat, war ihr Traumhaus. Unter seinem Dach gab es ein Café und einen Geschenkeladen. Das besondere an dem Haus: Es sollte eine Begegnungsstätte werden, in der Menschen mit und ohne Behinderung Verbindungen eingehen. Das Café sollte von Menschen mit Behinderung betrieben werden, die Gäste sollten alle sein, die guten Kaffee und leckere Kuchen schätzen. Im Geschenkeladen sollten Dinge verkauft werden, die in Werkstätten gefertigt wurden, in denen wiederum Menschen mit und ohne Einschränkungen gemeinsam arbeiten. Aus der Zeichnung wurde der Verein Traumwerker in Gräfelfing, den Madadkar gemeinsam mit Katharina Zörner im Jahr 2013 gegründet hat. Der Verein setzt sich für Inklusion im Würmtal ein und dafür, dass das Café im Traumhaus Wirklichkeit wird.

Das Café und auch der Geschenkeladen stehen sinnbildlich für das Ziel des Vereins: Weg vom "Sortieren", wie Madadkar, deren Tochter in einer Behindertenwerkstatt arbeitet, es nennt. Gemeint ist, die Silos aufzubrechen, in denen die Menschen mit Behinderung alle unter sich sind. Nach Madadkars Vorstellung sollen Menschen mit Förderbedarf eben nicht alle gemeinsam in ein Wohnhaus und eine Behindertenwerkstatt am Ende der Stadt "sortiert" werden, sondern alles wird viel mehr durchmischt: Die Arbeitsplätze in den Werkstätten sollten auch für Menschen ohne Behinderung zugänglich sein, in den dortigen Kantinen könnte ein Mittagessen für alle Berufstätigen in der Gegend serviert werden. Das ist für sie Inklusion - ein Miteinander auf Augenhöhe. Dafür will sich der Verein stark machen.

Das Traumhaus existiert zwar immer noch nur als Skizze, aber ein Teil davon lebt schon. In den vergangenen zehn Jahren haben die Traumwerker, die inzwischen rund 80 Mitglieder zählen, alles darangesetzt, die Idee vom inklusiven Café im Würmtal umzusetzen. Der Weg ist ein steiniger. Erst hatte der Verein einen alten Friseurladen in Gräfelfing im Visier. Er sollte als Übungscafé dienen. Denn Menschen mit einer kognitiven Einschränkung müssen Abläufe einüben, lernen, wie man serviert, eine Bestellung aufnimmt, eine Kaffeemaschine bedient, bevor sie Gäste empfangen können. Der Gemeinderat hatte dem Projekt schon zugestimmt, doch letztendlich scheiterte es an den Kosten für die notwendige Renovierung des Friseurladens.

Einfach aufgeben gibt es nicht bei dem Traumwerkern. Sibylle Madadkar und Katharina Zörner sind Geschäftsfrauen in Gräfelfing und haben das "Machen" im Blut. Im Unternehmerverband haben sie sich einst getroffen. Zörner ist Wirtin der Gaststätte "Wilder Hirsch" in Gräfelfing und hat ihre beruflichen Wurzeln in der Filmausstattung. Madadkar betreibt ein Kosmetik-Atelier in Gräfelfing. Als Unternehmerinnen mit dem starken Bedürfnis, sich ehrenamtlich gesellschaftlich zu engagieren, haben die beiden die Idee des ersten mobilen Inklusions-Cafés im Würmtal geboren: Kaffeebar, Spüle, Kuchentheke, Tische und Stühle passen als Module zusammengeklappt auf einen Pkw-Anhänger, der so jederzeit einsatzbereit ist für gastronomische Bewirtung bei Veranstaltungen. Zörner konnte die Fakultät für Holztechnik und Bau an der Hochschule Rosenheim für die Gestaltung im Rahmen einer Abschlussarbeit gewinnen - "wenn, dann groß" ist ihr Motto. Das Café ist ein Hingucker geworden und damit der Werbeträger für die gute Idee: Irgendwann doch ein Café als ständige Einrichtung unter dem Dach des Traumhauses zu eröffnen.

Mit dem mobilen Café waren die Traumwerker schon viel unterwegs, etwa beim Kulturfestival in Gräfelfing oder bei Ausstellungen des Kunstkreises und sind so immer bekannter geworden. Als sie im Jahr 2015 gleich an vier Wochenenden hintereinander bei einer Kunstkreis-Ausstellung auf dem Seidlhof in Gräfelfing serviert haben, hat Sibylle Madadkar die Bestätigung erhalten: "Wir spinnen nicht" - das klappt. Das Café-Personal hat eine steile Lernkurve hingelegt über die vier Wochenenden hinweg. Am Ende gelang es auch einem Mitarbeiter mit Autismus, den Gästen fröhlich in die Augen zu sehen. So entstand aber auch der Wunsch, den Cafébetrieb regelmäßiger anzubieten, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Übung bleiben.

Als sich die Möglichkeit bot, im neueröffneten Café Gräfelfinger gleich beim Bürgerhaus mitzumachen und an ein paar Tagen der Woche dort ein inklusives Café zu betreiben, bei dem Menschen mit Behinderung in einem Team mit anderen Servicekräften arbeiten, wurde der Traum plötzlich ganz greifbar. In Kooperation mit dem Wirt Hans Schumacher, dem Landratsamt und der Lebenshilfe Werkstatt ist ein Pilotprojekt entstanden. Doch dann kam die Corona-Pandemie und mit ihr strenge Auflagen zum Infektionsschutz für Menschen mit Behinderung und schließlich auch die komplette Schließung der Gastronomie. Es war das Aus für das Pilotprojekt. Zwar durften die Gaststätten dann wieder öffnen, aber es fehlten durch viele Personalwechsel verlässliche Strukturen, die für Menschen mit Behinderung laut Madadkar wichtig sind. Es offenbarten sich aber auch die Herausforderungen eines solchen Projekts. Was jeder der beteiligten Akteure unter Inklusion verstand, war dann doch verschieden, wie Madadkar erzählt. Heute wissen sie und Katharina Zörner, dass die Entwicklung eines gemeinsamen Konzepts mit allen Beteiligten ganz am Anfang des nächsten Projekts stehen muss.

Für Behinderte galten die Kontaktbeschränkungen länger

Die Pandemie hat noch etwas ins grelle Licht gezerrt: Es wird noch immer stark sortiert. Für Menschen mit Behinderung galten die Kontaktbeschränkungen wesentlich länger als für alle anderen. Das isolierte Leben in den Wohnheimen drückte vielen auf die Seele. Madadkar hat daraus ein bewegendes, grafisch aufwendig gestaltetes Buch gemacht, herausgegeben vom Verein Traumwerker. "Beschränkt - befreit. Corona ist doof" lautet der Titel, in dem Menschen mit Behinderung auf 190 Seiten ihre Gefühle und Erfahrungen in der Pandemie in eigenen Texten ausdrücken. Das Buch zeigt auf, dass es in vielen Bereichen noch ein weiter Weg ist bis Inklusion, die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen, die Gesellschaft durchdrungen hat. Die Traumwerker haben es im Gräfelfinger Buchhandel verkauft, aber auch an Politiker verteilt, die Dinge bewegen können. Es ist damit auch ein Mahnwerk geworden.

Die Traumwerker sind weiter am Werk. Das nächste Projekt gibt es schon. Sie wollen einen Food-Truck anschaffen. Der sei praktischer als das mobile Café mit den vielen Modulen. Mit dem Truck wollen sie 2024 bei der Landesgartenschau in Kirchheim vertreten sein. Die "nicht betroffene" Gesellschaft abholen und Berührungsängste abzubauen sei der richtige Weg, sagt Zörner. Der Cafébetrieb hat das gezeigt, die Menschen sind gerne gekommen. Inzwischen sei der Verein "eine Marke" geworden, sagt Madadkar. "Wir werden von außen als Inklusionsexperten angesprochen." Die Traumwerker haben ihren Beitrag zu einem Bewusstseinswandel geleistet.

Selbst machen sie diesen auch durch. Immer wieder müssen sie sich hinterfragen und überprüfen, wo sie bei ihren Projekten noch zu wenig inklusiv sind und mehr wagen könnten. Irgendwann, da sind sie sicher, wird die Zeit reif sein für einen Kaffee im Traumhaus und zwar nicht die "Mitleidstasse", sondern weil der Kaffee gut ist und es Spaß macht hinzugehen.

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