Ukraine-Politik:Wenn die Opposition für den Kanzler klatscht

Ukraine-Politik: "Jetzt ist die Zeit, tapfer zu handeln": Olaf Scholz bei seiner Regierungserklärung ein Jahr nach seiner Zeitenwende-Rede am Donnerstag im Bundestag.

"Jetzt ist die Zeit, tapfer zu handeln": Olaf Scholz bei seiner Regierungserklärung ein Jahr nach seiner Zeitenwende-Rede am Donnerstag im Bundestag.

(Foto: Christian Spicker/IMAGO)

Es war die Stunde der Bilanz im Bundestag - ein Jahr Zeitenwende. Warum Oppositionsführer Friedrich Merz dem Kanzler dabei wenig entgegenzusetzen hatte.

Von Daniel Brössler, Berlin

Olaf Scholz hat noch nicht lange gesprochen, da kommt er schon zum wichtigsten Punkt. Ein Jahr ist vergangen, seitdem der Kanzler an einem Sonntag drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am selben Pult seine historische Zeitenwende-Rede gehalten hat. Nun will er in einer Regierungserklärung Bilanz ziehen, was nach allen bisherigen Erfahrungen eine Lobrede in eigener Sache erwarten lässt. Scholz aber stellt, nachdem in den vergangenen Tagen in Berlin von den einen für Solidarität mit der Ukraine und von anderen für "den Frieden" und einen Stopp der Waffenlieferungen demonstriert worden ist, erst einmal die Frage: "Wie also kommt die Ukraine dem Ziel eines gerechten Friedens näher?"

Er spreche ganz "bewusst" von der Ukraine, sagt Scholz. Denn sie sei es, die angegriffen worden sei, deren Bürgerinnen und Bürgern Gewalt und Unterdrückung drohe, sie sei es, die um ihre Freiheit und die Existenz ihres Landes kämpfe. "Darum kann und wird es keinen Friedenschluss über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg geben", ruft Scholz. Es applaudieren daraufhin nicht nur die Abgeordneten der Ampel-Fraktion. In der ersten Reihe klatscht auch CDU-Chef Friedrich Merz. Die Unions-Abgeordneten hinter ihm tun es ihm gleich. Insgesamt sechs Mal während dieser Regierungserklärung wird Scholz Dinge sagen, denen Merz den Applaus nicht verweigern will.

Dass die Opposition Scholz so häufig applaudiert, ist doch eher selten

Grundsätzlich kommt es schon vor, dass die Opposition für den Kanzler klatscht, in dieser Häufung aber eher selten. So gesehen gelingt es Scholz, zumindest im ersten Teil seiner Regierungserklärung, an Geist und Ton seiner Zeitenwende-Rede anzuknüpfen. Er tut gut daran, am Anfang seiner Rede eine Ukrainerin zu Wort kommen zu lassen, die Schriftstellerin Yevgenia Belorusets. "Jetzt ist die Zeit, tapfer zu handeln und gegen den Aggressor starke, wirksame Mittel zu finden. In meiner Fantasie spielen sich jetzt schon hundert Varianten ab, wie das alles aufhören kann, wie der Krieg endet, in diesem konkreten Moment", zitiert der Kanzler aus ihrem Kriegstagebuch. Die deutsche Debatte war zuletzt geprägt gewesen von einzelnen Aufsätzen und Aufrufen. Scholz stellt nun erst einmal das Schicksal und die Wünsche der Ukrainer an den Anfang.

In die Debatte schaltet er sich gleichwohl ein. Man schaffe "keinen Frieden, wenn man hier in Berlin ,Nie wieder Krieg' ruft - und zugleich fordert, alle Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen", stellt Scholz klar - "denn wir wissen, welches Schicksal den Ukrainerinnen und Ukrainern unter russischer Besatzung blüht". Das richtet sich an die von der Journalistin Alice Schwarzer und der - während der Regierungserklärung abwesenden - Linken-Abgeordneten Sahra Wagenknecht geführten Demonstranten. "Friedensliebe heißt nicht Unterwerfung unter einen größeren Nachbarn. Würde die Ukraine aufhören, sich zu verteidigen, dann wäre das kein Frieden, sondern das Ende der Ukraine", erklärt Scholz.

So ähnlich werden das mehrere Redner wiederholen, auch Friedrich Merz. Scholz formuliert da den Grundkonsens einer Art Ukraine-Koalition im Bundestag, bestehend aus SPD, FDP, Grünen und CDU/CSU. Jenen, die Diplomatie anstelle von Waffenlieferungen verlangen, hält der Kanzler entgegen: "Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln - außer über die eigene Unterwerfung." Er erinnert aber auch daran, dass die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine "ungewohnt für unser Land" seien. Er verstehe alle, "die darüber nicht Hurra schreien". Ihnen versichere er: "Die von mir geführte Regierung macht sich Entscheidungen über Waffenlieferungen niemals leicht." Bei jeder Entscheidung achte sie darauf, "dass die Nato nicht zur Kriegspartei wird".

Daran schließt sich der Pflichtteil der Rede an, in dem Scholz Leistungen und Verdienste seiner Bundesregierung aufzählt, angefangen von der Unterstützung der Ukraine und den Bemühungen innerhalb der EU. Die Europäer hätten sich "im Zeitraffer aus der Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle aus Russland gelöst - und zugleich beim Aufbau einer klimaneutralen europäischen Industrie den Turbo gezündet", sagt Scholz. Wie er vor einem Jahr versprochen habe, werde auch "Schluss gemacht" mit der Vernachlässigung der Bundeswehr. Wichtige Beschaffungsverfahren seien eingeleitet. Scholz versäumt es auch nicht, an "wuchtige Entlastungspakete" zu erinnern und daran, dass die Gasspeicher gut gefüllt seien.

Merz nennt Wagenknechts Äußerungen "menschenverachtend". Da klatscht auch die Ampel

Dazu hätte Friedrich Merz natürlich einiges zu sagen, etwa zu den schleppenden Beschaffungen für die Bundeswehr. Aber durch Ton und Art seiner Regierungserklärung hat Scholz dem sonst wortgewaltigen Oppositionsführer viel Wind aus den Segeln genommen. Scholz und Merz funktionieren als Antipoden oder auch als kommunizierende Röhren. Wenn sich der eine durch den anderen provoziert fühlt, läuft er zu Höchstform auf. Merz ist am Donnerstag nicht in Form, jedenfalls in dieser Hinsicht. Auch er aber stellt das Schicksal der Menschen in der Ukraine in den Mittelpunkt, erinnert an "Männer und Frauen, die ihr Leben gelassen haben, an zerrissene Familien" und an Boris Romanchenko, der vier deutsche Konzentrationslager überlebt hat und im Alter von 96 Jahren in Charkiw von einer russischen Rakete getötet wurde.

Kritik an Scholz übt Merz auch, aber eher pflichtschuldig, etwa weil dieser seine Entscheidungen in Sachen Waffenlieferungen nicht ausreichend erkläre. Wirklich hart ins Gericht geht Merz aber mit den Demonstranten des Wochenendes. "Für den Frieden einzutreten und für den Frieden zu demonstrieren - das ist nun wirklich aller Ehren wert", sagt er. "Maßgebliche Vertreterinnen und Vertreter von ganz links und ganz rechts" hätten aber "in einer geradezu bizarren Gemeinsamkeit Täter und Opfer verwechselt". Was das betrifft, herrscht Einigkeit in der Ukraine-Koalition. Und als Merz auf die Talkshow-Äußerung Wagenknechts anspielt, Vergewaltigungen gehörten zum Krieg und kämen auf beiden Seiten vor, und sie "zynisch und menschenverachtend" nennt, applaudieren nicht nur die eigenen Leute. Es klatscht auch die Ampel.

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