Bluttat bei Zeugen Jehovas:Acht Menschen nach Schüssen in Hamburg tot - darunter auch der Täter

Bei einer Veranstaltung der Glaubensgemeinschaft im Norden der Hansestadt fallen am späten Donnerstagabend Schüsse. Es gibt Tote und Verletzte. Die Polizei spricht von einer Amoktat.

Von Ulrike Nimz, Hamburg

Es ist kurz vor Mitternacht, aber die meisten Fenster in Groß Borstel und in Alsterdorf sind hell erleuchtet. Die beiden Stadtteile liegen im Norden Hamburgs, in der Nähe des Flughafens. Um die 25 000 Menschen leben hier. Viele von ihnen werden durch den schrillen Signalton ihres Mobiltelefons von der Bluttat erfahren haben, die die Stadt in der Nacht zum Freitag in den Ausnahmezustand versetzt hat.

Um 19 Uhr soll in den Gemeinderäumen der Zeugen Jehovas, dem sogenannten "Königreichssaal", der Gottesdienst begonnen haben, wie jede Woche. Das Gebäude befindet sich an der Grenze von Groß Borstel und Alsterdorf. Gegen 21.15 Uhr alarmieren die ersten Anrufer die Polizei: Es seien Schüsse zu hören. Eine Anwohnerin spricht gegenüber der dpa von vier Schussperioden. "In diesen Perioden fielen immer mehrere Schüsse, etwa im Abstand von 20 Sekunden bis einer Minute". Eine Person sei hektisch vom Erdgeschoss in den ersten Stock gelaufen.

Später seien Menschen von Polizisten an Händen und Füßen nach draußen getragen worden "Erfahrungsgemäß ist der Gottesdienst hier schon immer sehr gut besucht", sagt die 23-jährige Studentin - Familien, ältere und jüngere Leute. Die Polizei Hamburg berichtet von acht Toten. Darunter soll sich auch der mutmaßliche Täter befinden.

Wie der Spiegel berichtet, soll es sich bei dem Tatverdächtigen um ein ehemaliges Mitglied der Gemeinde der Zeugen Jehovas handeln. Er soll zwischen 30 und 40 Jahre alt sein. Die Tatwaffe sei den Berichten zufolge eine Pistole.

Polizei stuft Tat als Amoklauf ein

Die Polizei hat den Bereich großflächig abgesperrt, ein Hubschrauber kreist, schwer bewaffnete Polizisten säumen die Straße. Polizeisprecher Holger Vehren hat sich hinter Flatterband postiert und schildert den wartenden Journalisten das, was bislang bekannt ist. Die Beamten seien schnell vor Ort gewesen, das Polizeipräsidium ist nur gut einen Kilometer vom Tatort entfernt. Auch hätten sich zum Zeitpunkt des Alarms Angehörige der Spezialeinheit USE (Unterstützungsstreife für besondere Einsatzlagen) zufällig in der Nähe des Tatorts befunden. Sie betraten das Gebäude als erste.

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(Foto: SZ-Karte: Mainka/ Mapcreator.io/OSM)

Im Erdgeschoss habe man mehrere tödlich verletzte Personen vorgefunden, alle wiesen Schussverletzungen auf. Unmittelbar nach ihrem Eintreffen hörten die Beamten einen weiteren Schuss, fanden im Obergeschoss eine leblose Person vor, bei der es sich um den Täter handeln könnte, bestätigt ist auch das nicht. Jedoch gehen die Ermittler, die die Tat nach Informationen aus Sicherheitskreisen als Amoklauf einstufen, derzeit davon aus, dass die Person allein handelte.

Zuvor hatte es geheißen, der Täter befinde sich womöglich auf der Flucht. In einer amtlichen Gefahrendurchsage der Behörde für Inneres war zunächst die Rede von einer "extremen Gefahr". Die Menschen wurden aufgefordert, schützende Räume aufzusuchen und das Mobilfunknetz nicht durch unnötige Telefonate zu überlasten.

Acht Tote und mehrere Verletzte - Innenministerin Faeser "erschüttert"

Die Polizei richtete ein Hinweisportal ein. Auf der Webseite könnten "Fotos und Videos zur Tat oder relevanten Ereignissen in diesem Zusammenhang hochgeladen werden", teilte die Polizei Hamburg auf Twitter mit.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zeigte sich "erschüttert" über die Tat. "Meine Gedanken sind in dieser schweren Stunde bei den Opfern und ihren Angehörigen, bei den Gemeindemitgliedern und auch bei den Einsatzkräften", sagte Faeser der Deutschen Presse-Agentur.

Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) zeigte sich bestürzt über die Schüsse. "Die Meldungen aus Alsterdorf / Groß Borstel sind erschütternd", schrieb Tschentscher am Donnerstagabend bei Twitter. "Den Angehörigen der Opfer gilt mein tiefes Mitgefühl. Die Einsatzkräfte arbeiten mit Hochdruck an der Verfolgung der Täter und der Aufklärung der Hintergründe."

Wer sind die Zeugen Jehovas?

Die Zeugen Jehovas sind eine christliche Gemeinschaft mit eigener Bibel-Auslegung. Die Anhänger glauben an Jehova als "allmächtigen Gott und Schöpfer" und sollen sich strengen Vorschriften unterwerfen. Sie sind davon überzeugt, dass eine neue Welt bevorsteht und sie als auserwählte Gemeinde gerettet werden.

Die streng organisierte Gruppe wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dem Geschäftsmann Charles Taze Russell (1852-1916) in den USA gegründet und finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unter dem Nazi-Regime war die Glaubensgemeinschaft verboten und wurde verfolgt. Weltweit haben die Zeugen Jehovas etwa acht Millionen Mitglieder. Die "Weltzentrale" ist in New York.

Die deutsche Gemeinschaft mit weniger als 200 000 Mitgliedern gehört zu den größten in Europa. Die Zeugen Jehovas haben keine bezahlten Geistlichen. Ihre wichtigsten Publikationen sind Der Wachtturm und Erwachet!. Dem Staat stehen die Zeugen Jehovas distanziert gegenüber. An Wahlen nehmen sie aus religiösen Gründen nicht teil. Übermäßiger Alkoholgenuss, Tabak und das Feiern nach dem christlichen Festkalender werden ebenso abgelehnt wie Bluttransfusionen.

Zu Alter, Geschlecht oder gar einem möglichen Tatmotiv will Polizeisprecher Holger Vehren sich am Abend nicht äußern, verweist auf eine zeitnahe Pressekonferenz. Noch in der Nacht werden die Gemeinderäume nach möglichen Sprengfallen durchsucht. 17 Menschen, die unverletzt geblieben sind, werden psychologisch betreut. Gegen halb eins heißt es: "Die Lage hat sich so weit beruhigt."

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