Glosse:Das Streiflicht

Glosse: Das Streiflicht

Das Streiflicht

(Foto: SZ)

Sowohl im Werk von Jochen Distelmeyer als auch im Leben von Orcaweibchen Kiska lässt sich etwas über die Einsamkeit erfahren.

(SZ) Es mangelt im Werk des Musikers Jochen Distelmeyer nicht an Wehklagen, aber so randvoll mit Sorge wie zuletzt klagte selbst er nur selten. In dem Lied "Nicht einsam genug" wacht der Erzähler morgens unruhig auf, er fühlt sich fremd in seinem Leben und flüchtet an die frische Luft. Wozu? Mal "gucken, ob mich jemand kennt". Statt Freundschaft und Liebe zu finden, verliert sich unser Held dann aber in der Welt, und natürlich kippt auch noch das Wetter: "Da kam ein Donner von den Bergen / Und ein Nebel senkte sich ins Tal / Es war, als würd' die Sonne sterben / Ich wusste nicht mehr, wo ich war". Auch sonst trüben sich die Dinge nun immer weiter ein, Menschen zanken und belügen sich, sie führen erbittert Krieg selbst gegen die Schöpfung. Bei all diesen Menschen stellt sich also bald die Frage, warum sie tun, was sie tun - der Erzähler kommt in allen Fällen auf dieselbe Antwort: Wir sind, ein jeder und eine jede, wohl einfach noch nicht einsam genug.

Noch einmal weit größer als an Land kann die Einsamkeit unter Wasser werden, und wiederum davon konnte das Orcaweibchen Kiska viel besser erzählen als zum Beispiel Jochen Distelmeyer. Kiska galt als "einsamster Orca der Welt", und das war auch deswegen schon immer traurig, weil Kiska einst mit Keiko vergnügt vor Island tollte - dann wurden beide gefangen genommen, und während Keiko als "Free Willy" wenigstens zu Ruhm kam, verlor Kiska Jahrzehnte in einem Pool des Freizeitparks Marineland in Niagara Falls. Fünf Kälber hatte Kiska zur Welt gebracht, alle starben jung. Die letzten Jahre lebte sie allein als letzter Killerwal in Gefangenschaft in Kanada, vor ein paar Tagen nun ist Kiska im Alter von 47 Jahren gestorben. Mit Blick auf dieses ziemlich vermurkste Orcaleben taucht natürlich der Gedanke auf, dass ein Tod zuweilen auch befreiend sein kann - und so sehr es stimmt, dass bei der Idee vom Ende als Erlösung es immer auch um den Trost von Hinterbliebenen geht, so sehr kann es doch auch richtig sein, dass Kiska jetzt mit letzter Kraft in den Schwertwalhimmel geschwommen ist und dass sie dort, bei angenehmen Temperaturen und in unendlicher Freiheit, ihren guten alten Freund Keiko wiedergefunden hat.

In "Nicht einsam genug" teilt der Erzähler uns Zuhörenden abschließend mit, "und ich geh nicht mehr nach Hause / Weil ich kein Zuhause hab'" - so ist, wenn es schlecht läuft, das Leben. Was aber ist der Tod? Das weiß kein Mensch, und die Wale werden es wohl auch nicht wissen. Schön aber ist die Vorstellung, dass es in diesem Ende keine Einsamkeit mehr gibt. Und dass in diesem Sinne für alle Lebewesen etwas gilt, das Ricky Gervais als Tony in "After Life" über die verstorbene Liebe seines Lebens sagt: Ich wäre lieber im Nirgendwo mit ihr als ohne sie egal wo sonst.

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