Mercedes in der Formel 1:"Ich fühle mich mit dem Auto nicht verbunden"

Mercedes in der Formel 1: Geht da noch was diese Saison? Toto Wolff (links) und Lewis Hamilton beim Plausch.

Geht da noch was diese Saison? Toto Wolff (links) und Lewis Hamilton beim Plausch.

(Foto: Steve Etherington /Imago)

Vor dem zweiten Saison-Rennen verfestigen sich Gewissheiten: Red Bull fährt auf und davon, Mercedes trottet hinterher. Eine Kur des Konzepts wird wohl zu spät kommen - was bedeutet das für die Titelträume von Lewis Hamilton?

Von Philipp Schneider, Dschidda

Dies ist eine Geschichte über den sportlichen Sinkflug und die anhaltenden Leiden des einstigen Seriensiegers Mercedes in der Formel 1, und deshalb auch eine Geschichte über "tough love".

Sekunde... tough love? Kennt kein Mensch. Bevor die Fantasien sprießen, sei schnell die handelsübliche Übersetzung nachgereicht aus der Encyclopedia Britannica: "Liebe, die auf strenge Art und Weise ausgedrückt wird, insbesondere um jemanden dazu zu bringen, sich verantwortungsvoll zu verhalten."

Im Fahrerlager von Dschidda haben an diesem Wochenende einige Menschen nachgeblättert, was tough love bedeuten könnte. Es ist derzeit die Lieblingsredewendung von Toto Wolff, dem Teamchef von Mercedes. Rauf und runter spricht er von tough love, wenn er die Betriebsphilosophie erklärt, mit der er und seine Mannschaft den silbernen Karren aus dem Staub ziehen möchten.

Vor Hamilton starten Fahrer, die früher Rennen von ihm auf der Playstation nachgefahren sind

Das wird so schnell nicht geschehen, wie schon die Qualifikation zum Großen Preis von Saudi-Arabien bewies. Als Lewis Hamilton als Achter aus seinem Dienstwagen kletterte, erinnerte das Bild eher an "sad love" und das Ende einer großen Liebe. Sechs seiner sieben Weltmeisterschaften hat der 38-jährige Brite in einem Silberpfeil herausgefahren, am Samstag in Dschidda standen nun Fahrer in der Zeitenliste vor ihm, die früher Rennen von Hamilton auf der Playstation nachgefahren sind: Lance Stroll, der Sohn des Rennstallbesitzers von Aston Martin, und der Franzose Esteban Ocon in seinem Alpine. Um ein Haar hätte ihn auch noch der talentierte Rookie Oscar Piastri, 21, im McLaren geschnappt, zwei Hundertstel langsamer war er nur. George Russel, Hamiltons Teamkollege, war sogar fast vier Zehntel schneller und legte die viertbeste Zeit vor. "Ich fühle mich mit dem Auto einfach nicht verbunden", erklärte Hamilton. "Und dieses Gefühl ändert sich nicht, ungeachtet dessen, was ich mit dem Auto alles anstelle. Ich spüre kein Vertrauen in es. Ich bin einfach ein bisschen verloren."

Die gute Nachricht lautet: Es wird am Sonntag höchstwahrscheinlich eine, eventuell sogar zwei große Aufholjagden zu erleben geben. Denn der blendend aufgelegte Max Verstappen in seinem unfasslich überlegenen Red Bull, der die Pole Position auch in einer Hängematte (Achtung, aufpreispflichtige Sonderausstattung, d. Red.) herausgefahren hätte, rollt wegen eines technischen Defekts in Q2 aus Parkbucht 15 los.

Wolff: "Dieses Auto hat einfach nicht die Performance, die wir wollen"

Und an seiner Seite dürfte zumindest für eine Weile Charles Leclerc durchs Feld pflügen, der zwar die zweitbeste Zeit vorlegte, aber um zehn Plätze strafversetzt werden wird, weil an seinem Ferrari Teile getauscht werden mussten. Weil also zwei Plätze vererbt wurden, wird Verstappens Teamkollege Sergio Perez auf der Pole vor Fernando Alonso und George Russell ins Rennen rollen. "George hat alles rausgezogen, was da war. Aber dieses Auto hat einfach nicht die Performance, die wir wollen", sagte Wolff.

Schon nach dem Saisonauftakt in Bahrain, als sich Hamilton dessen gewahr worden war, dass er auch in dieser Saison nicht in einem weltmeistertauglichen Auto sitzen würde, hatte er geklagt, das Team habe im vergangenen Winter nicht auf ihn gehört. "Es gab Dinge, die ich ihnen gesagt habe. Ich habe die Probleme mit dem Auto erklärt. Ich bin in meinem Leben so viele Autos gefahren. Ich weiß, was ein Auto braucht, und was ein Auto nicht braucht."

Obwohl Hamilton zwar in der Tat viele Autos gefahren ist, aber doch nie eines konzipiert hat, war dieser Satz aus der Sicht von Wolff keine Besserwisserei, Kompetenzanmaßung oder Unverschämtheit. Sondern eben: tough love. Er hatte halt lediglich seine Liebe auf strenge Art und Weise ausgedrückt, um Mercedes dazu zu bringen, sich verantwortungsvoll zu verhalten. Und das Team, so Wolffs Auslegung, müsse halt aushalten, wenn einer mal Tacheles redet!

Mercedes wird ein Konzept aufgeben, das außer ihnen niemand im Fahrerfeld praktiziert

Das wird nicht reichen. Weiß Wolff auch. Und deshalb wird Mercedes nach einigen strengen Ansprachen des Teamchefs auch sein Konzept aufgeben, das darin bestanden hatte, an den superschlanken Seitenkästen an den Autos festzuhalten, die außer ihnen so niemand verbaut hat im Lager der Konstrukteure.

Die Formel 1 ist ein technischer Sport. So schnell wie ein Team dank einer Innovation aufsteigt, so schnell kann es auch wieder fallen, wenn es etwas grundsätzlich falsch berechnet. Mercedes hat gegen Ende der vergangenen Saison nicht wahrhaben wollen, dass ihrem aerodynamischen Konzept Schwächen innewohnten, die sich auch nicht durch Feintuning beheben ließen. Das Team empfand sozusagen "romantic love" gegenüber einer alten Idee, von der es nicht lassen wollte. Man habe "alles versucht, dieses Konzept zum Durchbruch zu bringen. Es hat nicht funktioniert", gestand Wolff.

Der Doppelsieg von Mercedes im vorletzten Rennen in Brasilien ließ die Leidenschaft diesbezüglich noch einmal aufflammen. Aus Wolffs Sicht noch entscheidender: Auch die Daten deuteten klar darauf hin, dass der eingeschlagene technische Weg erfolgreich sein würde: "Sie haben uns glauben lassen, dass wir damit auf einer besseren Basis in die Saison starten könnten als letztes Jahr. Das war aber nicht der Fall."

Dem Vernehmen nach wurde aus einer Übervorsicht heraus, bloß das tückische Hoppeln der Autos im Vorjahr nicht noch einmal zu erleben, das Auto so ausgelegt, dass es weit davon entfernt ist, so tiefliegend über den Asphalt zu fliegen wie der Red Bull - wobei das auch kein anderer Konkurrent vermag. Vor allem in den Kurven fehle Abtrieb, die Schnelligkeit auf den Gerade sei eigentlich in Ordnung, hat Hamilton berichtet.

Bis zu einem größeren Umbau müssen sich Mercedes und Hamilton wohl gedulden

An den auch auf der zweiten Strecke des Jahres überraschend schnellen Autos von Aston Martin kann Mercedes übrigens dank eines Ausschlussprinzips erkennen, an welchen Stellen ihr eigenes Konzept höchstwahrscheinlich krankt: Das Kundenteam von Mercedes verwendet denselben Antriebsstrang und dasselbe Heck-Konzept - an beiden liegt es also schon mal nicht.

Nun wird man sehen, wann und ob überhaupt das Problem geheilt werden kann. Der Budgetdeckel limitiert die Möglichkeiten eines Teams, eine Radikalkorrektur vorzunehmen. Für die Operationen, die Mercedes nun vorschwebten, sei allerdings genug Geld vorhanden, das versichern sie zumindest bei Mercedes. Der erste größere Umbau wird allerdings wohl erst Ende Mai beim sechsten Rennen in Imola vollzogen werden.

Was für Lewis Hamilton wohl bedeutet, dass er sich gedulden muss auf dem Weg zum Gewinn des achten Titels. Mindestens. "Wenn wir auch in den nächsten zwei Jahren nicht in der Lage sein sollten, ihm ein Siegerauto zu bauen, wird sich Lewis anderswo umschauen", glaubt Wolff. "Aber dieser Moment ist noch nicht gekommen." Tough Love eben.

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