Lesung:Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

Lesezeit: 2 min

"Die Vergangenheit lässt uns nicht los", sagt Sofia Andruchowytsch. (Foto: Alexander Chekmenev)

Sofia Andruchowytsch erzählt in ihrem Amadoka-Epos vom schmerzhaften Prozess des Erinnerns - nicht nur eines verletzten Mannes, sondern einer ganzen Gesellschaft. Die ukrainische Schriftstellerin stellt ihr Werk nun in München vor.

Von Antje Weber

Der Mann sieht aus wie ein Monster. Körper und Gesicht des ukrainischen Soldaten, der 2014 im Donbass verletzt wurde, sind entstellt, von Narben zerfurcht. Vielleicht noch schwerer aber wiegt: Der Mann hat komplett sein Gedächtnis verloren. Als im Krankenhaus eine Frau erscheint, die sich als seine Ehefrau Romana vorstellt und ihn zärtlich Bohdan nennt, kann er sich an nichts erinnern. Liegt das nur an seinen Verletzungen - oder ist er mit dieser Frau gar nicht verheiratet? Sind es überhaupt nicht seine Erinnerungen, die sie ihm einpflanzen will? Was ist wahr, und wo beginnt die Lüge?

Sofia Andruchowytsch hat einen vertrackten Roman über das Thema Erinnerung geschrieben und dabei die Vergangenheit eng mit der Gegenwart verzahnt. Ihr Roman wirkt auf eine fast unheimliche Weise aktuell, dabei ist ihr Amadoka-Epos bereits im Jahr 2020 in der Ukraine erschienen. Die Schriftstellerin vermittelte beim Literaturfest München im vergangenen Herbst bereits einen Eindruck von diesem gewaltigen Opus, dessen erster Teil nun auf Deutsch vorliegt: "Die Geschichte von Romana" (Residenz Verlag). "Die Vergangenheit lässt uns nicht los", sagte Andruchowytsch damals im Literaturhaus. Und sie machte auch in einem Gespräch mit der SZ kürzlich klar: "Mein Roman ist ein Vorwort zu dem, was heute geschieht."

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Sofia Andruchowytsch wird bald erneut aus Kiew nach München reisen. In der Buchhandlung Lehmkuhl wird sie am 30. März ihr Werk vorstellen (im Rahmen einer Themenwoche "Menschen im Krieg" der "Winterschule Ukraine" der LMU), ergänzt von Lesungen der Schauspielerin Magdalena Müller und moderiert von Alexander Kratochvil: Der Literaturwissenschaftler und Übersetzer hat nicht nur zusammen mit Maria Weissenböck den Roman ins Deutsche übersetzt, sondern bringt sein Wissen über die ukrainische Literatur seit Kurzem in München als wissenschaftlicher LMU-Mitarbeiter im Fachbereich Slawistik ein.

"Wer bin ich?", fragt im Roman der verwundete Soldat mit verzweifeltem Krächzen. "Du bist Bohdan Krywodjak. Du wurdest in einer kleinen Stadt in der Westukraine geboren. Du hast ein schwieriges Verhältnis zu deiner Familie. Du bist Archäologe." Man könnte diese Erklärungen Romanas noch ergänzen um: Du bist eine Metapher. Denn das schwierige Verhältnis zur Familie in diesem Epos kann man auch als die Schwierigkeit einer ganzen Gesellschaft deuten, sich den Traumata der eigenen Geschichte zu stellen.

Sofia Andruchowytsch beim Signieren nach ihrer Lesung beim Literaturfest München 2022. (Foto: Catherina Hess)

Andruchowytsch spielt das anhand etlicher Figuren durch, die alle irgendwie mit Bohdans Familiengeschichte zusammenhängen sollen - und die in ihren Verstrickungen in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht immer eindeutig der Opfer- oder Täterseite zuzuordnen sind. Da ist zum Beispiel der Vater, ein Professor für Gesichtschirurgie, der eine verhängnisvolle Leidenschaft pflegt und an Gefühlen von Leere und Schmerz leidet, ohne wirklich Zugang zu seinen Erinnerungen zu finden. Und da ist Bohdans Mutter, die irgendwann genug hat "von all dem Versteckspiel, den halb zerkauten und verdauten Geheimnissen" jener Familiengeschichte, "Geheimnisse, die sich aufblähten wie all ihre Toten", sagt sie. "Jahrelang, jahrzehntelang, vielleicht sogar jahrhundertelang, verrotteten sie bei lebendigem Leib, vergiftet vom eigenen Schweigen, vergiftet vom Schein, es wäre nichts geschehen."

Bohdans Mutter verlässt ihren Mann, um endlich frei von all dem zu sein. Ob es ihr gelingt? Sofia Andruchowytsch jedenfalls versucht mit diesem Roman, der wie ein schmerzhafter Trip ins kollektive Unterbewusste wirkt, mehr als ein Kunststück: Sie erzählt von so viel Gedächtnisverlust, von so viel Schweigen - und will es damit offensichtlich nicht nur brechen, sondern auch bannen. Ein Roman als Befreiungsakt.

Sofia Andruchowytsch, Lesung am Donnerstag, 30. März, 19.30 Uhr, Buchhandlung Lehmkuhl, Leopoldstraße 45, Reservierung erbeten (service@lehmkuhl.net)

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