Frage der Woche:Gibt es das "Schwulen-Gen"?

Lesezeit: 4 min

Zwischen zwei und zehn Prozent der Menschheit fühlen sich zum gleichen Geschlecht hingezogen. Wissenschaftler versuchen zu erklären, warum.

Markus C. Schulte von Drach

Als Dean Hamer vom US-amerikanischen National Cancer Institute in Bethesda 1993 behauptete, er hätte ein Homosexuellen-Gen identifiziert, war die Aufregung groß. Schließlich wird Homosexualität von manchen Menschen und sogar in manchen Gesellschaften sogar noch heute als abnorm, abartig oder krankhaft beurteilt.

Hauptsache Liebe. (Foto: Foto: ddp)

Die Lesben- und Schwulenbewegung befürchtete - und befürchtet noch immer -, dass die Suche nach den Ursachen sexueller Vorlieben zu weiterer Diskriminierung führen könnte, oder dass Homosexualität bereits in Föten nachgewiesen werden könnte, um diese dann abzutreiben oder genetisch zu "korrigieren".

Aus naturwissenschaftlicher Sicht lässt sich allerdings eindeutig feststellen, dass Homosexualität weder abnorm, noch abartig oder gar krankhaft ist. Die Vorliebe für das gleiche Geschlecht ist im Gegenteil etwas völlig Normales.

Gleichgeschlechtliche Liebe ist lediglich eine von etlichen Verhaltensweisen, die im Rahmen der Fortpflanzung im Tier- und Pflanzenreich beobachtet werden. Und schon die Verbreitung der Homosexualität - etwa zwei bis zehn Prozent der menschlichen Bevölkerung fühlt sich zum gleichen Geschlecht hingezogen - beweist ihre "Normalität". Dazu kommt, dass das Verhalten auch bei etlichen Tierarten zu beobachten ist. Warum ausgerechnet diese sexuelle Präferenz in vielen Gesellschaften trotzdem heftig diskriminiert wird, ist unklar.

Für Naturwissenschaftler ist Homosexualität vor allem aus zwei Gründen interessant: Zum einen möchte man - wie bei allen anderen Verhaltensweisen auch - verstehen, was dahintersteckt. Das Gleiche gilt für Heterosexualität ja genauso. Nur glaubt man, hier schon eine Menge mehr begriffen zu haben.

Und dann gibt es noch die Frage, die Evolutionsbiologen sich stellen: Wie konnte sich ein Verhalten entwickeln und bis heute behaupten, welches der Fortpflanzung hinderlich zu sein scheint? Sollten tatsächlich Gene dahinterstecken, so würde man erwarten, dass diese inzwischen aus den Populationen verschwunden wären. Schließlich können ihre Träger mit dem bevorzugten gleichgeschlechtlichen Partner keinen Nachwuchs zeugen.

Gerade diese Frage macht die Erforschung der Homosexualität hochinteressant. Genauso interessant übrigens, wie zum Beispiel jene, warum manche Menschen das Zölibat wählen und sich damit selbst von der Fortpflanzung ausschließen.

Dass Homosexualität tatsächlich irgendwie mit den Genen zusammenhängt, ist unter Wissenschaftlern inzwischen kaum noch umstritten. Zwar sprechen die Forscher nicht mehr von dem einen "Schwulen-Gen". Doch eine ganze Reihe von weiteren Zwillingsstudien deutet darauf hin, dass das Erbgut eine Rolle spielt.

Gene und Umwelt

So veröffentlichten Forscher von der University of London und dem Karolinska Institutet in Stockholm kürzlich eine Studie, an der 3826 gleichgeschlechtliche Zwillingspaare teilgenommen hatten. Etwa fünf Prozent der Männer und acht Prozent der Frauen gaben an, schon mindestens einmal Sex mit einem Partner des gleichen Geschlechts gehabt zu haben.

Wie die Wissenschaftler im Journal Archives of Sexual Behavior berichten, wurden eineiige Zwillinge etwas häufiger beide vom selben Geschlecht angezogen als zweieiige. Mit anderen Worten: War ein Zwilling schwul, so war die Wahrscheinlichkeit, dass sein eineiiger Zwillingsbruder ebenfalls schwul war, etwas höher, als bei einem zweieiigen Zwillingsbruder.

Die Gene spielten demnach eine Rolle, und zwar eine größere als das soziale Umfeld während der Entwicklung. Doch wie die Forscher feststellten, waren Umweltfaktoren noch wichtiger, also zum Beispiel Ereignisse während der Schwangerschaft oder der Geburt, Traumata, Gewalt, Krankheiten - und auch sexuelle Erfahrungen.

"Homo- oder Heterosexualität entwickelt sich nicht nur über einen einzigen Pfad, sondern über mehrere", erklärte Qazi Rahman von der University of London. Und das gilt der Studie zufolge für Frauen noch stärker als für Männer.

Für den Einfluss der Gene sprechen möglicherweise auch Untersuchungen der Gehirne von Männern und Frauen. So ähneln die Denkorgane homosexueller Männer in einigen Punkten stärker denen von Frauen als von heterosexuellen Geschlechtsgenossen. Allerdings ist nicht klar, ob die Hirnentwicklung hier tatsächlich von Genen so organisiert wurde, dass eine sexuelle Präferenz entstand, oder ob eine Vorliebe für das gleiche Geschlecht sich auf die Entwicklung des Hirns ausgewirkt hatte.

Schwule Brüder

Auf Umweltfaktoren wiederum deuten etliche Studien an Geschwistern, die keine Zwillinge sind. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann homosexuell ist, umso größer, je mehr ältere Brüder er hat. Mit jedem Bruder wächst die Chance immerhin um 33 Prozent. Natürlich ist ein Mann mit drei älteren Brüdern deshalb nicht mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent schwul. Es handelt sich dabei um Werte, die über viele Männer gemittelt wurden. Bei Frauen wurde dieser Zusammenhang nicht beobachtet.

Woher der Effekt rührt, ist noch unklar. Möglicherweise hängt es mit hormonellen Prozessen während der Schwangerschaft zusammen. Demnach würde der erste Fötus die Bedingungen in der Gebärmutter verändern, so dass ein zweiter Embryo dort eine etwas andere Entwicklung durchmacht. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang zum Beispiel eine Reaktion des mütterlichen Immunsystems.

Es sind also offenbar tatsächlich sowohl Gene als auch Umweltfaktoren, die zur Entstehung der gleichgeschlechtlichen Liebe führen.

Doch lässt sich dieser Schluss mit der Evolutionstheorie in Einklang bringen? Wie können Gene vererbt werden, die den Träger bei der Fortpflanzung zumindest bremsen?

Inzwischen gibt es dazu mindestens zwei Erklärungsansätze: Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass jedes Individuum grundsätzlich bestrebt ist, seine Gene möglichst effizient zu verbreiten. Das geht natürlich über den eigenen Nachwuchs. Doch man ist ja auch mit seinen Geschwistern und deren Kindern verwandt.

Deshalb kann es sinnvoll sein, bei der Versorgung von Nichten und Neffen zu helfen, anstatt eigene Kinder aufzuziehen. Biologen sprechen hier von der "Gesamtfitness". Auch ein Mensch, der selbst keinen Nachwuchs zeugt, kann demnach dafür sorgen, das seine Gene erhalten bleiben - darunter dann auch jene, die eine Rolle bei der Homosexualität spielen könnten.

Ein mathematisches Modell

Eine andere mögliche Erklärung dafür, dass solche Gene nicht aussterben, bieten italienische Wissenschaftler der Universität von Padua. Bereits seit längerer Zeit weiß man, dass Frauen, die homosexuelle Männer in der Verwandtschaft haben, etwas mehr Nachwuchs zeugen als Frauen ohne solche Verwandten.

Camperio Ciani und seine Kollegen entwickelten kürzlich ein mathematisches Modell, das dieses Phänomen erklären könnte. Die Forscher postulierten zwei "Schwulen-Gene": eines auf dem X-Chromosom und eines auf einem der anderen, nicht das Geschlecht bestimmenden Erbgutträger.

Diese, so berichteten die Wissenschaftler kürzlich im Fachmagazin PLoS ONE, könnten die Fruchtbarkeit von Frauen erhöhen und von Männern verschlechtern, indem sie dazu führen, dass ihre Träger - und zwar beide Geschlechter - besonders stark von Männern angezogen werden. Das könnte die Fruchtbarkeit der Frauen erhöhen, so dass die betroffenen Gene in der Population erhalten bleiben, auch wenn die betroffenen Männer weniger Nachwuchs bekommen, weil sie schwul sind.

Bleibt festzuhalten, dass die Wissenschaft noch weit davon entfernt ist, die gleichgeschlechtliche Liebe zu erklären. Aber eines ist klar: Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie weniger schön ist als die verschiedengeschlechtliche Liebe, oder dass es einen Grund gibt, Menschen daran zu hindern, sie zu leben.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: