Gedächtnisforschung:Die Kunst des Vergessens

Wie vergisst der Mensch? Über diese Frage rätseln Forscher schon lange. Nun scheint zumindest eines klar: Das Gehirn betreibt viel Aufwand, um Erinnerungen zu löschen.

Katrin Blawat

Das Vergessen zu erforschen ist ein schwieriges Geschäft. Erinnerungen, und erst recht nicht mehr vorhandene, lassen sich nicht mit den üblichen Bildgebungsmethoden darstellen; sie hinterlassen keinen eindeutigen Abdruck im Gehirn.

Gehirn, Gedächtnis, iStock

Wie funktioniert Vergessen: Forscher untersuchen, was im Gehirn beim Löschen von Erinnerungen vor sich geht.

(Foto: Foto: iStock)

So fragen sich Forscher noch immer, wie das Vergessen eigentlich funktioniert. Schwächen sich Erinnerungen mit der Zeit einfach ab, ähnlich wie ein Foto, das mit der Zeit ausbleicht? Oder überschreiben neue Informationen die Erinnerungen und machen sie so nicht mehr abrufbar?

In jedem Fall, so waren Neurowissenschaftler lange überzeugt, vergesse das Gehirn passiv, quasi als unvermeidlicher Nebeneffekt des Lernens. Allmählich aber kommen Gedächtnisforscher zu dem gegenteiligen Schluss: Das Gehirn betreibt einigen Aufwand, um Erinnerungen zu löschen.

"Vergessen ist ein aktiver Prozess", sagt Yi Zhong von der Universität Peking. Auf molekularer Ebene bedeutet Vergessen das akkurate Zusammenspiel einer ganzen Kaskade von Proteinen. Nun meldet Zhongs Team, es habe die Schlüsselsubstanz am Anfang dieser Kaskade identifiziert: ein Protein namens Rac (Cell, Bd.140, S.579, 2010).

Die Forscher brachten Fruchtfliegen bei, einen Duft mit Futter und einen anderen mit leichten Stromschlägen zu verbinden. An den Experimenten nahmen verschiedene Fliegen-Typen teil. In einigen Tieren hatten die Forscher das Rac-Protein stillgelegt, in anderen war es aktiver als in der Kontrollgruppe.

Eine Vergessens-Kaskade

Die nichtmanipulierten Tiere konnten sich etwa eine Stunde lang gut an die beiden Düfte erinnern. Fliegen ohne Rac hingegen wussten noch nach mehr als einem Tag, bei welchem Duft sie Stromschläge zu befürchten hatten. Im Gegensatz dazu hatten Tiere, bei denen das Protein besonders aktiv war, ihr Training schon nach einer halben Stunde wieder vergessen.

In weiteren Versuchen vertauschten die Forscher die Bedeutung der beiden Düfte oder präsentierten den Fliegen ein ganz neues Duft-Paar. Wieder waren die Fliegen mit viel Rac die vergesslichsten, und mehr noch: Diesmal löste Rac die Vergessens-Kaskade besonders schnell aus.

Das Protein wirkt also auf zweifache Weise. Zum einen löscht es Erinnerungen irgendwann, sofern sie nicht ständig aufgefrischt werden. Kommen aber andere, neue Informationen hinzu, werden die alten Erinnerungen dank Rac besonders schnell gelöscht. Vergessen sei demnach ein aktiver Vorgang, folgert Zhong.

Dass dieser in gleicher Weise auch im Menschen abläuft, ist wahrscheinlich. Rac gehört zu einer Gruppe Proteine, die sich im Lauf der Evolution nur wenig verändert haben. Zhong erhofft sich nun entscheidende Erkenntnisse über die Mechanismen des Lernens: "Wir beginnen Erinnerungen zu verstehen, wenn wir das Vergessen erforschen."

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