Bundeswehr-Skandal:Schikane als Errungenschaft

Iss rohe Schweineleber! Leg dich in kaltes Wasser! Dein Wille ist nichts! Für wen ein funktionierendes System von Befehlen vorteilhaft ist - und warum Schikane untrennbar dazu gehört.

Gustav Seibt

Befehl ist Befehl - der Satz gilt in einer zivilen, demokratischen Gesellschaft nicht mehr. Wo Gleiche etwas erreichen wollen, da muss gemeinsam entschieden, also erst einmal beraten werden.

Bundeswehrskandal, Schweineleber, Rollmops, frische Hefe; dpa

Rohe Schweineleber, frische Hefe, Rollmops: Mit diesem Menü wurden Bundeswehr-Rekruten in Mittenwald schikaniert.

(Foto: Foto: dpa)

So will es das Bewusstsein einer Gesellschaft, die nach schrecklichen Erfahrungen dem Befehl so sehr misstraut, dass sie sich - einmalig in der Geschichte - sogar die "Erziehung zum Ungehorsam" auf die Fahnen schreiben konnte, also einen Imperativ, der lautet: Folge nicht blind einem Befehl, sondern denk nach, prüfe dein Gewissen und widersprich!

Die urtümliche Kraft

Solche Aufforderungen zum Ungehorsam zeigen aber nur, dass es nicht leicht ist, sich der urtümlichen Kraft des Befehls zu entziehen. Worte wie Angst, Macht, Gruppendruck beschreiben diese Kraft nur unzulänglich.

Würde ein intelligenter Rekrut sich vor dem Einzug in die Kaserne gegen die Kraft des Befehls wappnen wollen, sollte er am besten das glanzvolle Kapitel lesen, das Elias Canetti in "Masse und Macht" dem Befehl gewidmet hat.

Aber würde das helfen? Bewusstsein nämlich macht Feige aus uns allen, sagt Hamlet. Und Canetti zeigt eben, dass es nichts Leichtes ist mit dem Befehl, dass Reflexion und Aufklärung nur schwache Mittel gegen ihn darstellen - und das gilt auch für den Fall, dass Gleichrangige den Befehl in einem niederträchtigen Aufnahmeritual imitieren.

Spontaner Fluchtimpuls

Der Befehl erwächst, so Canetti, aus dem spontanen Fluchtimpuls, den das stärkere, angreifende Tier beim schwächeren auslöst. Todesangst senkt den Pfeil in den eigenen Willen, der nun nicht mehr anders kann, als dem von außen kommenden Anstoß zu folgen.

"Der Ursprung des Befehls, der ein Fremdes ist", sagt Canetti, "muss als Stärkeres anerkannt sein. Man gehorcht, weil man nicht mit Aussicht auf Erfolg kämpfen kann; wer siegen würde, befiehlt. Die Macht des Befehls muss unangezweifelt sein; hat sie nachgelassen, so muss sie bereit sein, sich durch Kämpfen wieder zu bewähren. Meist bleibt sie aber auf lange hin anerkannt."

Ungemütliche Wahrheit

Es sei erstaunlich, so weiter Canetti, "wie selten neue Entscheidungen gefordert werden; die Wirkungen der alten halten vor. Siegreiche Kämpfe leben in Befehlen weiter; in jedem befolgten Befehl wird ein alter Sieg erneuert."

Luzider und kälter kann man es nicht sagen. Damit ist allerdings auch eine für uns friedliebende Staatsbürger recht ungemütliche Wahrheit ausgesprochen: Ein funktionierendes System von Befehlen ist durchaus eine zivilisatorische Errungenschaft, denn es erlaubt, die Kämpfe, auf denen es beruht, meistens zu vermeiden: Eine unvordenkliche Kraftprobe muss für Millionen Befehle ausreichen.

Bis zur Lust am Quälen

Das ist etwas Großes, das nur die Menschen zustande bringen. Und solange es Notsituationen gibt, in denen schnell und einmütig gehandelt werden muss, wird der Befehl nicht völlig aus der Welt verschwinden.

Canettis ernüchternde Überlegung beantwortet auch die Frage, warum zum Befehl die Schikane gehört wie die Asche zum Feuer. Die Schikane ist der sinnlose Befehl, der Befehl um des Befehlens willen, bis zur Lust am Quälen: Iss rohe Schweineleber, leg dich in kaltes Wasser, auch wenn es nutzlos und unangenehm ist, ich will es eben so, dein Wille muss gebrochen werden.

Das ist die kleine Münze der unsichtbar gewordenen großen Machtprobe, die hinter den Befehlsapparaten von Militär, Polizei oder Feuerwehr auch in einer zivilen Gesellschaft steht. Der Glaube, man könne sich eine Armee halten, in der man ganz ohne Schikane auskommen, dürfte ein frommer Wunsch bleiben.

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