FDP-Chef:Dekadenzalarm: Westerwelle wild wie nie

Herausforderungen in aller Welt, nichts als Ärger daheim: Guido Westerwelle pendelt zwischen seinen Rollen hin und her - und verliert jede Souveränität.

W. Jaschensky

Der Wutausbruch vom Dienstag im Koalitionsausschuss ist kaum verkraftet, da ist schon wieder etwas passiert. Diesmal: Es gibt eine neue Sicht auf Hartz IV. Guido Westerwelle gefällt die ganze Diskussion nicht, die das Karlsruher Urteil ausgelöst hat. Der Chef-Liberale will hier "sozialistische Züge" erkennen.

Guido Westerwelle, ddp, iStock, Getty

FDP-Chef Guido Westerwelle doziert zur Weltgeschichte: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein". Was davon wohl der Außenminister hält?

(Foto: Foto: ddp)

Zwar vermeidet es Westerwelle in seinem Gastbeitrag für die Welt, das Bundesverfassungsgericht direkt zu kritisieren. Doch er schreibt, dass in Deutschland zu lange die Verteilung optimiert worden sei. Die Karlsruher Richter haben immerhin festgestellt, dass die Verteilung über Hartz IV so schlecht ist, dass sie gegen das Grundgesetz verstößt.

Und dann wagt sich der promovierte Jurist aus Bad Honnef in die Weltgeschichte und doziert in Sachen Hartz IV: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein."

An einem solchen Denken könne Deutschland scheitern, mahnt Westerwelle. Fast klingt es so, als sei die schwäbische Hausfrau in Versuchung, wie weiland römische Herrschergattinnen täglich in der Milch von 500 Eseln zu baden.

Da war er wieder, der gewohnte Gestus von Deutschlands erfahrenstem Oppositionspolitiker. Einer, der mit starken Sprüchen und erhobenem Zeigefinger die Aufmerksamkeit der Medien sucht.

Die Crux jedoch ist, dass Guido Westerwelle von Berufs wegen inzwischen als Deutschlands höchster Diplomat auftritt. Seit Tagen aber ist der 48-Jährige in seinem Amt als FDP-Chef gefangen und hat kaum mehr Zeit, Außenminister zu sein. Die Heimat fordert sehr. Die Ausstrahlung des Auswärtigen Amtes verblasst über den Querelen des Alltags.

Am Dienstag war es noch die Atomkraft. Genauer gesagt: Der Abschied davon. In der Koalitionsrunde knöpfte sich Westerwelle den Umweltminister Norbert Röttgen vor, obwohl der gar nicht da war. Teilnehmer erzählen, ein Sturm sei über den Tisch gezogen.

Röttgen hatte in der SZ der Union geraten, sich möglichst bald von der Atomkraft zu verabschieden. Der FDP-Chef fürchtete eine Annäherung seines Koalitionspartners an die Grünen. In Nordrhein-Westfalen könnte die CDU schon im Mai auf grüne Unterstützung angewiesen sein.

Dass die Grünen ungeniert mit Westerwelles Lieblings-Koalitionspartner flirten, ist nur eines der Probleme, mit denen sich der Liberale Westerwelle derzeit rumschlägt - die Liste lässt sich lange fortsetzen. SPD und Linke sticheln fröhlich, die FDP hege Sympathien für Steuerhinterzieher, weil sich Westerwelle abwägend über den Ankauf der Schweizer Bankdaten geäußert hatte. Und die Steuerpläne geißelt die Opposition als finanzpolitischen Wahnsinn.

Fataler ist der Streit in der Koalition. Erst vor drei Wochen versuchte Kanzlerin Angela Merkel, im Berliner Restaurant Borchardt mit CSU-Chef Horst Seehofer und Westerwelle Frieden zu stiften.

Es ist alles viel schlimmer geworden.

Am lautesten ist der Streit über Steuersenkungen. Oft geht es auch um die Gesundheitsreform. Hier positioniert sich Bayerns Fachminister Markus Söder (CSU) an der Seite von Horst Seehofer als Wortführer der innerkoalitionären Opposition. Er drischt auf den FDP-Ressortminister Philipp Rösler ein.

Nicht einmal die FDP-Mannschaft spielt so, wie es sich Kapitän Westerwelle wünscht. Da ist sein renitenter Vize Andreas Pinkwart, der in der Hoffnung auf etwas mehr Zuspruch in Nordrhein-Westfalen Wochen vor der Landtagswahl gleich eines der wenigen bislang verabschiedeten Gesetze in Frage stellt - die Reduzierung der Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen.

Und dann ist da natürlich noch das aufmüpfige Nordlicht Wolfgang Kubicki, der kaum eine Gelegenheit für einen Querschuss auslässt und schon mal den christdemokratischen Koalitionspartner als "größten Widersacher" bezeichnet. Kubicki ortet eine "Auflösung der Ordnung" in der FDP. So viel Chaos war nie.

Im Video: Bundesaußenminister Westerwelle hat dem Iran vorgeworfen, mit Demokratie nichts im Sinn zu haben.

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Die Leistungen des Außenministers Westerwelle

Wenig überraschend kommt da das Ergebnis einer aktueller Forsa-Umfrage. Die bescheinigt Westerwelle, in dem eigentlich von chronischer Beliebtheit gesegneten Amt des Außenministers nur eine Zustimmung von 35 Prozent zu haben.

Dabei hat er auf seinen Reisen wenig falsch und vieles richtig gemacht. Er hat in Polen einen guten Eindruck hinterlassen und das belastete Verhältnis zum Nachbarland entspannt.

Er hat es in Peking gewagt, China in Menschenrechtsfragen zu kritisieren und gleichzeitig offensiv die Interessen der deutschen Wirtschaft zu vertreten. Und er hat in der Türkei einen eigenen Akzent gesetzt, indem er die Chancen Ankaras auf einen Beitritt zur EU betont hat.

Vor allem aber hat Westerwelle alle Lügen gestraft, die befürchtet haben, der FDP-Chef könnte als unerfahrener Außenpolitiker mit einem übergroßem Ego wie ein Elefant im Porzellanladen agieren.

Das Gegenteil war der Fall.

Westerwelle betonte mehrfach seinen großen Respekt vor dem Amt - sogar vor seinem Vorvorgänger und Lieblingsfeind Joschka Fischer.

"Man kann sich von außen nicht vorstellen, wie fordernd dieses Amt ist", sinniert Westerwelle Anfang der Woche in einem lauen Spiegel-Interview. Noch vor Jahren habe er leichtsinnig gelästert, wie sich Joschka Fischer in den Jahren als Außenminister verändert habe. "Mir ist mittlerweile klar, wie das Amt den ganzen Mann fordert und beansprucht", schiebt er fast kleinlaut hinterher.

Doch diese leisen Töne gehen unter im Getöse um Hartz-IV und Gesundheitsreform, um Steuersenkungen und Steuer-CDs, um Hotel-Geschenke und Hoteliersspenden.

Wie ein Getriebener pendelt Guido Westerwelle seit Tagen zwischen den Ansprüchen des Auswärtigen Amtes und den Anforderungen der FDP. Auf der Strecke bleibt die Souveränität. Man fühlt sich an die Rockband Tocotronic erinnert. Sie fordert in ihrem aktuellen Album: "Bitte oszillieren Sie, hin und her, wild wie nie".

Guido Westerwelle kann nur eines retten: ein schöner Termin in der Fremde.

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