Lesen am Bildschirm:Der freie Fall der Seh-Linie

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Neuere Studien über das Lesen am Bildschirm befeuern die Kritiker an der Computerisierung der Klassenzimmer: Der Sinn von Texten werde so nicht richtig erfasst.

Bernd Graff

Der Professor der Theaterwissenschaft genoss auf der Bühne den Einsatz der gesamten Theatermaschinerie für jeden noch so abgedrehten Regieeinfall. Im richtigen Leben war er für Technik überhaupt nicht zu begeistern und mied sie.

Kann man am Bildschirm Texte lesen, wie aus einem Buch? Forscher sagen nein. (Foto: Foto: dpa)

Als der Professor gar nicht mehr an der digitalen Revolution vorbeikam, weil man ihm universitätsseitig einen Personal Computer auf den Schreibtisch gestellt hatte, da wies dieser Professor seine Sekretärin an, ihm jedes Dokument und jede E-Mail auszudrucken, die auf dem ungeliebten Gerät landeten. Denn auf diesem "Fernseher" könne er ja nichts lesen.

Zuerst dachte man: seiner schlechten Augen wegen. Doch er meinte es kognitiv. Er behauptete, Sinn und Bedeutung der Texte nicht erfassen zu können, wenn er sie auf dem Computerschirm lesen müsse. Heute, über ein Jahrzehnt später, erfahren wir: Der Mann hatte vielleicht recht.

Denn die amerikanische Nielsen Norman Group hat gerade das Leseverhalten von Menschen an Computerbildschirmen untersucht. Augenbewegungen wurden aufgezeichnet, die Lesedauer registriert, die aufgenommenen Inhalte anschließend abgefragt. Mit verblüffenden Ergebnissen.

Nur ein Sechstel der Probanden las einen Monitortext tatsächlich Satz für Satz. Stattdessen wanderten die Augen der meisten nach einem F-Muster über den Bildschirm: Dem Seitenbeginn folgten sie noch Wort für Wort, linear. Doch je weiter sie lasen, umso schneller kippten sie aus den Zeilen.

Nach dem Mittelstrich schwinden die Kräfte

Die Lese-Horizontale wurde immer kürzer, um sich, etwa auf Seitenmitte, wieder etwas zu fangen. Nach diesem F-Mittelstrich aber schwanden die Lesekräfte dann fast völlig, die Sehlinie trudelte nahezu im freien Fall ans linke untere Seitenende, das rechte wurde fast nicht mehr wahrgenommen.

Jakob Nielsen, einer der federführenden Forscher der Studie, beschreibt die Aktivitäten der Monitor-Leser als hektische Suche nach dem Kern des Textes, als eine Jagd nach Schlüsselbegriffen, ein Hangeln entlang von Gedankenstrichen, Aufzählungszeichen und Absatzmarken.

Und mutmaßt, dass am Schirm die Darstellung eines Textes als Buchseite die Lese-Lust sogar völlig nehme. Vergnügen bereiten allenfalls Farbcodes und Variationen der Schrifttype. Nielsen kommt zu dem Schluss: "Man kann es nicht Lesen nennen." Und meint sarkastisch: "So also werden im Web noch die wertvollsten Inhalte behandelt."

Was Teenager nicht können

Nun aber mal sachte, liebe Monitor-Lese-Verächter, die ihr vielleicht schon triumphieren möchtet! Nielsen zieht seine Schlüsse aus einer Studie, für die er gerade einmal 232 Personen untersucht hat. Seine Ergebnisse wird man also nicht repräsentativ nennen können.

Außerdem hat er schon vor zehn Jahren eine Arbeit mit dem Titel: "Wie Nutzer im Web lesen" veröffentlicht, deren erster Satz lautete: "Nun ja, sie tun's nicht." Eine Studie aus dem Jahr 2003 will herausgefunden haben, dass Jugendliche zwar bedeutend schneller durchs Web zappen als Erwachsene. Dafür bleibe bei ihnen aber wesentlich weniger hängen: "Teenager haben eine nur kurze Aufmerksamkeitsspanne und wollen ständig stimuliert werden. Sie machen einen Bogen um alles, was sie nicht auf Anhieb verstehen. Das Web ist darum kein Ort des Studiums und der Wissensmehrung."

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die neueste Studie schon wusste, was sie doch erst herausfinden wollte. Dennoch befeuern solche Befunde derzeit einen Bildungskonservatismus, den Backlash für eine Bildungspolitik zu fordern, welche über ein Jahrzehnt lang die Computerisierung der Klassenzimmer gefördert und Schulen ans Netz gebracht hat.

Für Mark Bauerlein etwa sind die F-Wörter willkommener Anlass, nein, nicht gleich das Internet abschalten zu wollen, aber eine Politik zu geißeln, die Ressourcen in die technologische Aufrüstung von Schulen gepumpt habe, "ohne damit auch nur irgendeinen statistisch signifikanten Effekt auf die Lernerfolge erzielt zu haben - und jemals erzielen zu können". Denn im Web werden Inhalte konsumiert, aber nichts gelernt.

Bauerlein ist Englisch-Professor an der Emory University in Atlanta und Autor eines im Mai erschienenen Buches: "The Dumbest Generation: How the Digital Age Stupefies Young Americans and Jeopardizes Our Future; Or, Don't Trust Anyone Under 30" (Die dümmste Generation: Wie das Digitalzeitalter die Jugend Amerikas verdummt und unsere Zukunft aufs Spiel setzt: Oder: Trau' keinem unter 30).

Der Professor arbeitet sich darin an etwas ab, das man das Bermuda-Dreieck für Wissen nennen könnte: ungebildet-unbelehrbare Schüler werden von einer irregeleiteten Politik mit völlig verfehlten Mitteln versorgt. Das amerikanische Ausbildungswesen nennt Bauerlein darum "eine der größten Enttäuschungen unserer Zeit". Fast schon genüsslich zitiert er auf den ersten Seiten eine Straßenumfrage, bei der ein Jugendlicher gefragt wurde: "Wo lebt der Papst?" "Hmm, in England?" "Wo in England?" "Hmm, in Paris."

Abgründe von Undankbarkeit

Doch kommt Bauerlein bei der Zuordnung von Ursache und Wirkung, Symptom und Auslöser ständig ins Trudeln. Unklar bleibt, was denn nun Schuld an der Misere trägt: die unverantwortliche Bildungspolitik, das schlimme Internet, die vielleicht organisch bedingte, andere Lese-Ökonomie am Bildschirm oder eine intrinsische Dummheit der Nachgeborenen.

Gleichviel, Bauerleins Bilanz ist gnadenlos: Der Jugend wird pauschal "mangelndes Interesse an Kultur, Politik, Geschichte, Wirtschaft, Arbeit" attestiert. Und wohl auch Undankbarkeit: Die Jungen "genießen alle Vorzüge und Vorteile einer reichen, bestausgestatteten Hightech-Gesellschaft", verbringen aber "eine unfassbare Menge Zeit damit, sich Geschichtchen, Bilder und Musikstücke über das Netz hin und her zu schicken, um die Aufmerksamkeit ihrer Clique zu erheischen.

Sie leben in einer Welt des pubertären Geplänkels und der schlüpfrigen Bilder". Wenn sich nichts ändere, "dann wird man ihrer gedenken als einer begnadeten Jugend, welche ihre Privilegien nicht verdiente. Sie könnte einmal zu der Generation werden, die das große amerikanische Erbe verspielt hat".

Bauerlein hat die jüngste Nielsen-Norman-Studie zum Anlass genommen, im Chronicle of Higher Education neuerlich sein Lamento über die Ausbildungsverdummung anzustimmen: "Sie bleiben an der Oberfläche, puzzeln Sprache und Ideen zu Präsentationen und Info-Grafiken zusammen, suchen, was sie wollen, und ignorieren den Rest.

Sie reduzieren Geschichte, Philosophie, Literatur und die feinen Künste auf bloße Information; also auf ein Material, das man einsammelt, austeilt und wieder vergisst. Für sie ist es doch gleichgültig, ob sie die Instant Message eines Kumpels oder die Unabhängigkeitserklärung lesen."

Alle Differenz schmelze so dahin. Lehrer und Professoren seien dabei, ihre Verantwortung als Anwälte von Bildung höflich und diskret zu schleifen. Klassen- und Seminarräume sollten aber angesichts der "irren Verbreitung" und der "imperialen Machtansprüche" digitaler Technologien wieder zu Oasen des Langsam-Lesens und Verstehens werden.

Die Intelligenz einer ganzen Generation stehe auf dem Spiel, ja die Zukunft Amerikas. Da schade ein wenig Lese-Entschleunigung nicht, auch wenn sich das reaktionär und rückwärtsgewandt anhöre. Kurz: Sollten Sie, lieber Leser, diesem Artikel hier nicht folgen können, dann wird es wohl es daran liegen, dass Sie ihn an einem Computerbildschirm lesen wollten.

© SZ vom 22.09.2008/ssc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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