Ringen:Alexander Leipold, der Grenzgänger

Wie Schlaganfall-Patient Leipold sein Comeback gestaltet.

Hallbergmoos - Es war ein beifallsreicher Abend in der Hallberghalle von Hallbergmoos. Das Ringerdorf bei München feierte sein Halbfinale, das erste seit 33 Jahren, und nichts fehlte zu einer zeitgemäßen Inszenierung. Es gab Glockenläuten aus dem Mischpult, scheppernde Rockmusik zum Einzug der Athleten, so viele Zuschauer wie nie in diesem engen Kessel, der Landrat saß in Reihe eins, von einer Leinwand grüßte ein Teufel mit Harpune, das Maskottchen des SV Siegfried, und es folgten: zehn sehenswerte Kämpfe, die ein Unentschieden ergaben, 10:10. Hallbergmoos, der Außenseiter, wuchs an der Kulisse, für den VfK Schifferstadt, den Deutschen Meister, war die Sache mühselig - auch, weil sich ein Mitstreiter schonte in diesem Hinkampf: "Man soll auf seinen Körper hören", sagte Alexander Leipold, "auf Teufel komm raus, das muss nicht sein."

Dominik Zeh, Hallbergmoos, 76 Kilo Freistil, blieb auf diesem Wege ein "Scheißgefühl" erspart. Er hatte fest damit gerechnet, Leipold auf der Matte zu begegnen, und es wäre ihm nicht leicht gefallen nach der ganzen Vorgeschichte. "Ein normaler Mensch würde nicht ringen", bemerkte Zeh. Böse war das nicht gemeint, es drückte Ehrfurcht aus vor einem Grenzgänger. Alexander Leipold, 34, gibt freie Sicht auf Gipfel und Gräben des Hochleistungsports. Er war Olympiasieger, Dopingfall, Mann zwischen Extremen. Das Wichtigste hat er behalten: seine Integrität. Und den Ruf, ein Kumpeltyp zu sein. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit, als er im Sommer erkrankte, von einem Tag zum anderen, im Trainingslager, drei Schlaganfälle, als seltene Folge einer Virusinfektion, wie die Ärzte heute wissen. Kaum ein halbes Jahr später stand Leipold wieder auf der Matte. Zum Bundesliga-Viertelfinale kehrte er kurz vor Weihnachten zurück, als Punktsieger gegen Jan Brömme aus Luckenwalde. Ein Wunder, nach so kurzer Zeit.

Courage und Unvernunft

Das Comeback daheim in Schifferstadt geriet zum Gefühlskino, und Leipold scheute sich nicht, seine Ergriffenheit zu zeigen: "Wenn die Zuschauer blitzartig aufstehen und alle klatschen, nur für dich, dann ist das überwältigend." Neulich in Baden-Baden hat ihn das ZDF auf die Bühne geholt bei der Gala für die Sportler des Jahres. Doch in die Bewunderung mischt sich Skepsis: Kann das wirklich gesund sein, was der Mann da treibt? Ist das Risiko vertretbar? Volker Jägemann, früherer Olympia-Orthopäde der deutschen Ringer, drückt es vornehm aus: Eine "kluge Entscheidung" sei der Verzicht auf den Kampf in Hallbergmoos gewesen, Leipold wäre "gut beraten, sich zu nichts drängen zu lassen".

Ein Thema, das tief schürft, denn die Grenze von Courage und Unvernunft kennt niemand, und im Fall des Familienvaters Leipold geht es um mehr als ein paar heile Knochen. Sein Sprachzentrum war gelähmt, kurzzeitig auch die rechte Körperhälfte. Doch der Sport ist Medizin für ihn, kein Risikofaktor. Leipold kennt die Aufklärungsbroschüren: Schlaganfall, ich doch nicht! "Man sieht, es kann jeden treffen", sagt er, aber das Schlimmste wäre, die Krankheit im Kopf zu zementieren. Der Ehrgeiz, wieder vollwertig zu ringen, war Leipolds heilsam-ster Antrieb: "Weil du im Leben immer ein Ziel brauchst, egal ob es ein Bezirksliga-Kampf ist oder Olympia."

"Ideales Rehaprogramm"

Seine Ärzte sagen: keine Bedenken. Behutsam hat sich Leipold herangetastet, über schonende Beanspruchung mit Pulsuhrkontrolle zu Reflextests und Hochbelastungen. Nichts hat ihm geschadet, im Gegenteil: Worauf es ankommt beim Ringen, feine Balance, flinkes Reagieren, komplexe Grifftechniken, das alles sei "ideales Rehaprogramm". Als hessischer Landestrainer Talente fördern? Das allein gab keine Perspektive: "Ich hätte ja auch sagen können: Ich kann sprechen, ich kann gehen, danke, genügt".

Eben nicht. Leipold will weiter tun, was er am besten kann, und er muss dazu nichts Verschüttetes ausbuddeln, er hat ja nichts verlernt. "Schritt für Schritt vorwärts, an Psyche und Physis arbeiten", rät ihm Bundestrainer Wolfgang Nitschke, der Leipold gerne mitnähme nach Athen. Nächsten Samstag, im Rückkampf gegen Hallbergmoos, geht es um den Einzug ins DM-Finale. Weil die Gewichtsklassen wechseln, hat Schifferstadt alle Trümpfe, und diesmal wird Leipold mitringen. "Ja", sagt er, "sicher." Eine gute Entscheidung, findet Josef Fritsch, der Hallbergmooser Trainer: "Alex braucht solche Prüfsteine, wenn er zu Olympia will." Der Satz verrät: Man kennt sich, man mag sich.

Leipold, der Sympathieträger. Am Samstag hockte er die meiste Zeit auf einer hölzernen Turnbank, an der Kante vorne links, dicht bei seinen Teamkollegen. Am Schluss hat ihm ein Fan einen Gutschein geschenkt, für einen Tandemflug im Gleitschirm. Und obwohl er diesmal nur zusah, wurde er beklatscht wie ein Sieger. Als ihn der Mattensprecher begrüßte, erhoben sich die Leute. Wie so oft an diesem Abend.

Moritz Kielbassa

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