Analytiker Roland Loy:"Wir sind Lichtjahre entfernt, Fußball zu verstehen"

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Wissenschaftler Roland Loy über Klinsmanns Tempofußball, gefoulte Elfmeterschützen und Weitschüsse auf nassem Boden.

Christof Kneer

SZ: Herr Loy, welche Weisheit wollen Sie beim Länderspiel Slowakei gegen Deutschland auf keinen Fall hören?

Da geht's lang? Fußballer zu verstehen ist nicht immer leicht. (Foto: Foto: rtr)

Loy: Ich habe gehört, dass es am Spieltag regnen soll, und deshalb bitte ich den Reporter inständig, dass er nicht sagt, dass bei nassem Boden Weitschüsse ein probates Mittel sind.

SZ: Stimmt das denn nicht?

Loy: Das weiß keiner. Das ist eine der Legenden, die von Generation zu Generation weiter erzählt werden. Es ist ja nicht auszuschließen, dass Weitschüsse von Haus aus derart erfolglos sind, dass es egal ist, ob der Boden dabei grün ist oder ob Schnee liegt. Aber ich bin mir auch ziemlich sicher, dass der ZDF-Reporter diese Weisheit nicht verbreiten wird.

SZ: Weil Sie als Berater dabei sind.

Loy: Ja, und ich freue mich, wenn sowas in die Kommentierung einfließt. So hat Herr Kerner beim Confed-Cup mal erklärt, dass es in Wahrheit egal ist, ob der Gefoulte den Elfmeter selber schießt.

SZ: Ist es das wirklich?

Loy: Ich habe über 1000 Strafstöße analysiert und bin zum Ergebnis gekommen, dass sowohl die gefoulten als auch die nicht gefoulten Schützen 77 Prozent ihrer Elfmeter verwandeln.

SZ: Glauben Sie, dass die Branche auf solche Erkentnisse gewartet hat?

Loy: Ich maße mir nicht an, den Fußball neu zu erklären, aber ich bin der Überzeugung, dass die quantitative Schiene im Fußball total unterentwickelt ist. Natürlich gibt es vieles, das nicht messbar sind. SZ: Niemand kann sagen: Podolski hatte heute 8,5 Prozent Spielwitz ...

Loy: ... ja, aber ich finde es nicht ausreichend, wenn Beobachter nur ihrem subjektiven Eindruck vertrauen. Wenn Holger Osieck von der Technical Group der Fifa zu einem Schluss kommt - wer sagt dann, dass das richtig ist? Wir sind Lichtjahre davon entfernt zu verstehen, wie der Fußball funktioniert. Gerade deshalb können wir es uns nicht leisten, auf die messbaren Größen zu verzichten.

SZ: Sie sprechen in Ihrer Arbeit von den Jahrhundertlügen des Fußballs. Nennen Sie doch mal eine.

Loy: Oliver Bierhoff sagt als Sat 1-Experte immer, dass Flügelspiel die Erfolg versprechendste Variante ist.

SZ: DFB-Scout Urs Siegenthaler hat dagegen behauptet, die meisten Tore fielen immer noch durch die Mitte.

Loy: Ja, das habe ich ihm gesagt... Aber im Ernst: Nach meinen Auswertungen ziehen nur 2,4 Prozent aller Flanken einen Torerfolg nach sich.

SZ: ... wobei das ja schwer messbar ist, weil das Tor auch zehn Sekunden später fallen kann und dann vielleicht indirekt von der Flanke ausgelöst wurde.

Loy: Sie haben Recht, und ich will auch gar nichts gegen die Flanke beweisen. Wenn ein Team Robben und Zé Roberto als Flügelstürmer hat und Klose und Hashemian in der Mitte, dann ist Flügelspiel sicher ein Mittel, aber das ist eben ein konstruiertes Beispiel. Worum es mir geht, ist eine Kultur der Zurückhaltung. Verstehen Sie: Heerscharen von Experten geben seit Jahrzehnten Weisheiten zum Besten, man lehrt die Weisheiten auf Trainerseminaren, schreibt sie in Lehrbücher - und kein Mensch weiß, ob sie stimmen. Heißt es nicht, dass, wer die meisten Zweikämpfe für sich entscheidet, gewinnt? Ich habe mehr als 100000 Eins-gegen-eins-Situationen untersucht und festgestellt, dass nur 40 Prozent aller Spiele von der zweikampfstärkeren Elf gewonnen wurden.

SZ: Und was machen wir jetzt mit unserem Fußball? Zweikämpfe einstellen?

Loy: Nein, ich will nur vermeiden, dass solche Spekulationen sich als Lehrmeinung fortpflanzen. Vieles ist ja auch nur Mode. Im Moment redet Jürgen Klinsmann immer von Tempofußball, andere Experten behaupten dagegen, man müsse unbedingt Ballbesitz haben. Wer aber schnell spielt, verliert auch schneller den Ball, und das ist das Gegenteil von Ballbesitz, also kann mindestens eine Theorie nicht stimmen. Ich fand es toll, dass Felix Magath kürzlich gesagt hat: Wir haben gewonnen, aber ich habe keine Ahnung warum. Aber er hat eine Stellung, bei der er sich das erlauben kann. Andere Trainer können sich schlecht hinstellen und sagen: Heute war alles Zufall. Nein, sie sagen: Meine Taktik ist toll aufgegangen.

SZ: Sie glauben an den Zufall?

Loy: Natürlich. Gerade auf Höchstniveau hängen Resultate immer von Unwägbarkeiten ab, und hinterher sucht man ein Muster, um sie zu erklären. Siehe Champions-League-Finale: Es gibt keinen logischen Grund, warum der AC Milan in einer Viertelstunde drei Tore gegen Liverpool fängt. Weil man aber einen Grund braucht, hat man das hinterher mit der Einwechslung von Hamann erklärt. Hamann war vielleicht ein Aspekt, aber eben einer von tausend. Das ist das, was ich mit der Fortpflanzung solcher Theorien meine: Weil Hamann der Grund für den Erfolg sein muss, ist er plötzlich kein Spielverlangsamer mehr, sondern auf einmal wieder ein Stratege.

SZ: Sie sind selbst Inhaber der Trainer-A-Lizenz - welche Schlüsse würde der Trainer Loy aus den Erkenntnissen des Analytikers Loy ziehen?

Loy: Ich würde versuchen, das, was messbar ist, einfließen zu lassen. Man weiß ja, welche Art von Freistößen eher zu Toren führt als andere, man weiß, dass halb hoch geschossene Elfmeter gerne gehalten werden. Das sind Kleinigkeiten, die aber Spiele entscheiden können.

SZ: Sie würden also zum Schützen sagen: Schieß' nicht halb hoch!

Loy: Genau.

SZ: Und wenn er sagt: Da fühle ich mich aber am sichersten?

Loy: Dann würde ich einen anderen schießen lassen.

(SZ vom 3.9.2005)

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