Alltag: Schizophrenie:Wenn die Stimmen kommen

Zurück in der Realität: Julia Schulz leidet unter einer schweren Psychose - und hat damit gelernt zu leben. Nun erzählt sie davon.

Philipp Crone

Als die 30-Jährige leise ihren Namen in die Runde sagt, blickt sie noch auf den Linoleumboden des Klassenzimmers. Dann guckt sie in die Gesichter von 13 Schülerinnen der 11. Klasse und sagt: "Ich habe eine psychische Erkrankung, Schizophrenie."

Alltag: Schizophrenie: Kämpft gegen Vorurteile und wirbt bei Berufsschülerinnen für Verständnis: Julia Schulz.

Kämpft gegen Vorurteile und wirbt bei Berufsschülerinnen für Verständnis: Julia Schulz.

(Foto: Foto: Andreas Heddergott)

Der Klassenlehrer wird später sagen, dass er seine Schülerinnen selten so aufmerksam erlebt hat. Aber so eine Lebensgeschichte hört man auch nicht oft. Julia Schulz streicht sich die langen dunklen Haare hinter die Ohren. Dann sagt sie: "Bei meiner ersten Psychose war ich genauso alt wie ihr jetzt - 18. Es endete mit einem Suizidversuch." Sie braucht genau zwei Sätze, um absolute Ruhe im Raum zu erzeugen.

Im Klassenzimmer 214 der Berufsschule an der Orleansstraße sitzen die angehenden Arzthelferinnen Julia Schulz in einem Stuhlkreis gegenüber, dazu eine Ärztin der TU München und die Schirmherrin der Veranstaltung, Schauspielerin Franziska Walser. Alle drei arbeiten mit dem "Münchner Bündnis für psychisch kranke Menschen" (Basta) zusammen. Die Arbeitsgruppe versucht, Schüler mit der Problematik psychischer Krankheit zu konfrontieren und ihnen so über Vorurteile und Ängste hinwegzuhelfen.

Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist im Laufe des Lebens von einer Psychose betroffen. Eine Psychose ist ein vorübergehender Zustand, in dem ein Mensch den Kontakt zur Wirklichkeit verliert, sich oft von seiner Umwelt bedroht fühlt. Und eine Schizophrenie ist eine schwere Psychose. So definiert es die Fachliteratur. Richtig versteht man diese Krankheit aber erst, wenn jemand wie Julia Schulz einfach aus dem Leben erzählt.

Sie war in der 12. Klasse, als es losging. Und sie hatte Stress. "Mein damaliger Freund hat mich verlassen, das Abitur stand an und der Führerschein. Auf einmal hatte ich vor allem Angst." Sie fühlte sich verfolgt, von Leuten, von der Umwelt, von den Menschen in der U-Bahn. Alle Gesprächsfetzen bezog sie auf sich, immer im negativen Sinn. Sie hatte das Gefühl, dass Autos sie überfahren wollten. Sie versuchte sich mit Pillen umzubringen und kam in die psychiatrische Klinik nach Haar. Allerdings wurde ihre Psychose dort nicht erkannt, sagt Schulz.

Plötzlich hörte sie Stimmen

Sie bekam Antidepressiva, zog in ein Mädchenhaus und machte ihr Abitur nach. "Nach einem Jahr habe ich die Medikamente dann weggelassen." Ein Fehler, der sie fast das gerade erst wiedergewonnene Leben gekostet hätte. Die Runde ist still. Auch Franziska Walser rührt sich nicht. Sie nimmt zum ersten Mal an einer solchen Veranstaltung teil. Zwischendrin erklärt die junge Ärztin einen Fachbegriff.

Wenn die Stimmen kommen

Julia Schulz spricht von der zweiten Psychose, die Zuhörer erstarren wieder. "Ich war 21, kam gerade von einer längeren Reise aus Asien zurück, hatte dort viel gekifft und wollte in mein Studium starten." Sie war außerdem unglücklich verliebt, fühlte sich verloren an der Uni und bald auch wieder verfolgt.

Sie konnte sich auf nichts mehr konzentrieren, nichts machen. "Das ist so schrecklich, ihr könnt euch das nicht vorstellen." Sie wollte nicht mehr weiterleben, nahm 60 Tabletten auf einmal, lag eine Woche im Koma. Nun suchten die Ärzte die richtigen Medikamente für sie, das dauerte Monate. Aber sie kam wieder auf die Beine.

In den nächsten neun Jahren nahm sie 50 Kilo zu, wegen der Medikamente. Wie viele sie denn nehme, fragt eine Schülerin. Schulz holt eine rote Plastikbox aus ihrer Tasche, mit verschiedenen Fächern. "13 Tabletten pro Tag - morgens, mittags, abends", sagt sie.

Die schlimmste Zeit durchlebte Julia Schulz vor eineinhalb Jahren. Bis dahin war sie glücklich verliebt. Sie hatten sich in der Psychiatrie kennengelernt, es war der Mann ihres Lebens, sagt sie.

Dann brachte sich ihr Freund um. Schulz hatte ihre Medikamente abgesetzt, und hörte plötzlich Stimmen. "Was haben die gesagt?", fragt Walser. "Die haben gesagt: 'Du hörst Stimmen.'" Schulz ging nun selbst in die Klinik, war insgesamt ein Jahr in Haar. Danach zog sie in eine betreute WG. Jetzt hat sie einen neuen Freund, eine Katze, einen Job.

Als die Stunde vorbei ist, sind alle mitgenommen. Franziska Walser, die in ihren Filmen schon einige psychisch kranke Frauen gespielt hat, unterhält sich mit Julia Schulz. Die sagt: "In den USA ist es mittlerweile doch total angesagt, einen Psychiater zu haben. Und hier wird man noch immer schief angeguckt."

(SZ vom 17.7.2007)

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