Kindesmissbrauch und Kirche:Nicht von dieser Welt

Sexueller Missbrauch und andere Sodomien: Warum sich das Kirchenrecht nicht mit dem weltlichen verträgt.

Andreas Zielcke

Sexueller Missbrauch war natürlich nie auf die katholische Kirche beschränkt. Mag ihre Quote der Pädophilie besonders hoch sein, in säkularen Schulen oder in anderen Kirchen sind Heranwachsende nach allem, was jetzt ans Tageslicht tritt, auch nicht geschützt. Alle Anstalten, in denen sie in geschlossener Gesellschaft betreut werden, setzen sie einer ähnlichen Missbrauchsgefahr aus.

Und die emotional geschlossenste Gesellschaft ist noch stets die Familie. Auch wenn es zur Zeit ausgeblendet wird, ist es dieser Ort, in dem Kinder am stärksten gefährdet sind. Hier herrscht das größte Abhängigkeitsgefälle. Kein Wunder, dass Lehrer in reformpädagogischen Instituten die Schüler vor allem dort sexuell vereinnahmten, wo sie mit ihnen als "Familie" zusammenlebten.

Eines aber unterscheidet die katholische Kirche von allen übrigen gefährlichen Gesellschaften: Sie unterhält eine eigene Strafjustiz, die solche Vergehen ahndet. Zwar gibt es auch ein evangelisches Kirchenrecht, doch das stellt kaum mehr als eine gewöhnliche Disziplinarordnung dar, die Pfarrer zur Einhaltung ihrer Dienstpflicht anhält. Ein voll ausgeformtes Strafrecht, das neben das staatliche tritt, ist nur der katholischen Kirche eigen. Und das heißt auch, dass es einheitlich gilt für die gesamte katholische Welt mit ihren mehr als eine Milliarde Gläubigen und ihrer halben Million Klerikern.

Das prekäre Verhältnis der Kirche zur säkularen Strafgewalt hat hier seinen Grund. Selbst der Vorwurf der Vertuschung, den man seit den Enthüllungen in den USA und Irland und eben in Deutschland gegen die Kirche erhebt, hängt ohne die Kenntnis dieses separaten Rechts in der Luft.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die Kirche im Zweifel gegen den Angeklagten entscheidet - und warum dann doch wieder nicht.

Reinheit des Amtes

Eines lässt sich vorweg sagen: Die katholische Kirche hat noch erhebliche Lernschritte vor sich. Dass nicht das eigene Sanktionsrecht, sondern das weltliche Strafsystem das einzig angemessene Instrumentarium im Umgang auch mit priesterlicher Päderastie ist, muss erst noch in die Köpfe vieler Kleriker. Offenbar ist dies ein Prozess, bei dem man in historischen Dimensionen denken muss.

Was also hat es mit dem kanonischen Recht auf sich? Man denunziert es nicht, wenn man ihm bescheinigt, dass es sich mit weltlichen Maßstäben nicht verträgt. Es gehorcht völlig anderen Strafzwecken als sein staatliches Pendant.

Sehr speziell ist schon die wenn nicht verschämte, so doch höchst indirekte Sprache. Begriffe wie sexueller Missbrauch oder sexuelle Handlung tauchen nicht auf. Einschlägig ist der Codex Iuris Canonici von 1983, ergänzt um prozessuale Regeln, die Johannes Paul II. 2001 zum "Schutz der Heiligkeit der Sakramente" erlassen hat und die insbesondere die Kongregation für die Glaubenslehre als allein zuständig für die Verfolgung solcher Vergehen festlegt. Alle Gesetze sprechen nur von der "Sünde gegen das sechste Gebot des Dekalogs".

Sodom und Gomorrha

Unvermeidlich wird allein damit das große Buch des zweitausendjährigen Kampfes der Kirche gegen Homosexualität aufgeschlagen, mehr noch, es reicht bis in die Anfänge des Alten Testaments zurück, zur Genesis (1. Moses 19, 1 ff.) und der Geschichte von Sodom und Gomorrha. Den Begriff der Sodomie freilich vermeiden kanonische Statuten seit langem. Stattdessen benennen sie mit dem Verstoß gegen das sechste Gebot unmittelbar nur den Ehebruch, um den es natürlich in den Fällen des priesterlichen Fehlverhaltens am wenigsten geht.

Diese euphemistische Begriffsverschiebung wäre eine Geschichte für sich. Da aber die Theologie stets an dem Dogma festhielt, jede sexuelle Aktivität jenseits ehelicher Zeugungsakte als schwere Sünde anzusehen (also auch heterosexuelle orale und anale Handlungen), fallen homosexuelle Aktionen erst recht darunter.

Bedeutsam dabei ist die Systematik, unter der die Strafbarkeit läuft. So wie der Erlass von Johannes Paul II. dem Schutz der "heiligen Sakramente" dient, so definiert der Codex von 1983 die Verstöße gegen jenes sechste Gebot als Vergehen der "Amtsanmaßung" oder der Verletzung besonderer "Verpflichtungen".

Keine Strafe ohne Gesetz

Geschützt wird also primär nicht, wie im weltlichen Strafrecht, die sexuelle Selbstbestimmung der Opfer. Geschützt wird vielmehr die Reinheit des "Bußsakramentes" der Beichte (der Priester darf diesen sakralen Akt nicht durch sexuelle Annäherung an den Beichtenden pervertieren) oder sonstiger weihevoller Amtspflichten. Selbst beim Missbrauch von Minderjährigen wird diesen kein autonomes Schutzrecht zugestanden.

Folgerichtig droht die schwerste Strafe nicht für Sexualverkehr mit Kindern, sondern Priestern, die einem "Mitschuldigen an einer Sünde gegen das sechste Gebot des Dekalogs die Absolution erteilen". Diese gelten, vor jeglichem Urteil, schon mit der Tat als exkommuniziert. Hier drückt sich der kanonische Perspektivenwechsel am drastischsten aus. Nicht etwa schlimmere Tatumstände beim Missbrauch des Opfers begründen hier die scharfe Strafe, sondern der Missbrauch des Absolutionsrechts.

Was sich beim Schutzzweck der Tatbestände andeutet, setzt sich bei den allgemeinen Regeln der kanonischen Bestrafung fort. Zwar erkennen sie im Prinzip an, dass nur Taten verfolgt werden dürfen, deren Strafbarkeit vorher gesetzlich feststand ("keine Strafe ohne Gesetz"). Ja, für diesen fundamentalen Grundsatz jeden Rechtsstaats hat das Kirchenrecht das Vorbild geliefert - ein gewaltiges Verdienst. Doch es hält sich selbst nicht daran. Bei Verletzung "göttlichen Rechts", um "Ärgernissen zuvorzukommen", dürfen auch ohne genuines Gesetz Strafen verhängt werden. Rechtsstaatlich gesehen eine Blankolizenz des Schreckens.

Obendrein dürfen sich Angeklagte nicht auf die Unschuldsvermutung verlassen. Entgegen vielen Bekundungen, die man jetzt von Kirchenvertretern hört, zuletzt vor wenigen Tagen vom zuständigen "Promotor Iustitiae" der Glaubenskongregation, Charles J. Scicluna ("Die angeklagten Kleriker haben das Recht - wie ein jeder - auf die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils"), kehrt das Kirchenrecht die Vermutung gegen den Angeklagten, sobald der "äußere Tatbestand" feststeht: Dann muss er beweisen, dass er weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt hat; andernfalls ist er dran.

Absurde Geheimhaltung

Und um die Differenz zum weltlichen System vollends zu markieren, wird der Beschuldigte einem Verfahren unterworfen, das eher an Kafka als an Recht erinnert. Der Beschuldigte erfährt den Namen des ihn anzeigenden Missbrauchsopfers nicht, eine öffentliche Verhandlung gibt es nicht, die Herrschaft des Verfahrens liegt bei der Glaubenskongregation in Rom, mag das Vergehen auch in Irland oder Südamerika stattgefunden haben.

Über allem liegt ein Schleier von Geheimnis, von intransparentem Walten fremder Kompetenzen, letztlich kontrolliert vom Heiligen Stuhl, Gesetzgeber und Richter in einem. Vor allem dieser Punkt veranschaulicht die Unverträglichkeit mit weltlichem Recht. Die Geheimhaltung wäre, liefe parallel das staatliche Strafverfahren, sogleich ad absurdum geführt.

Trotzdem stehen all diese Merkmale des Kirchenrechts weniger für ein mittelalterliches Denken, sondern für einen anderen rechtlichen Sinn.

Nicht zufällig endet der gesamte Kodex damit (Art. 1752), dass die "Wahrung der kanonischen Billigkeit und das Heil der Seelen in der Kirche immer das oberste Gesetz sein muss." Strafen in diesem Sinn dient nicht der Schuldvergeltung oder weltlicher Prävention, nicht also dem empirischen Schutz potentieller Opfer, sondern einem spirituellen Zweck, dem Heil der Seelen in einem Reich, das nicht von dieser Welt ist.

Gefallene Seelen

In der Tat, nur so lassen sich die Eigenarten des kanonischen Strafens verstehen - wenn es überhaupt mit dem Begriff der Strafe richtig erfasst ist. Laien muss die Lektüre des Kodex schon deshalb verwundern, weil er von einer unendlichen Fülle von Ausnahmen zur verwirkten "Strafe", von Mildebezeugungen, von nachträglichem Straferlass und überhaupt von allen möglichen Anstrengungen durchdrungen zu sein scheint, die gefallene Seele in den Schoß der Kirche und ins Heil zurückzuführen.

Entsprechend häufig ist die Nicht-Verurteilung, gerade bei Pädophilie. Nach Scicluna führten von den 3000 Beschuldigungen der letzten neun Jahren nur 20 Prozent zu Strafen, bei rund 60 Prozent wurde das Verfahren aus Rücksicht auf den Beschuldigten eingestellt.

Die Geheimhaltung im Verfahren, der fürchterliche Generaltatbestand der Verletzung göttlichen Rechts, die verkürzte Unschuldsvermutung ebenso wie die Verlagerung des Schutzzwecks von den Opfern zu den heiligen Akten und zur Lehre der Kirche laufen auf dasselbe hinaus: Der Priester begibt sich nicht nur mit Haut und Haaren, sondern mit seiner Seele bedingungslos-vertrauensvoll in die Hände der Kirche. Dort wird für das Heil aller, aber auch für sein persönliches Heil gesorgt, notfalls mit Sanktionen, immer aber mit dem Ziel, sich seines seelischen Wohls anzunehmen - von einer höheren Warte als er selbst.

Wer darum das Sträuben der Kirche, ihre Priester der Staatsgewalt auszuliefern, als kalte Wahrung ihres Rufs interpretiert, vereinfacht die Sache. Zumindest idealtypisch betreibt die Kirche pure Heilspädagogik.

Der Schluss aber, dass das kanonische gerade deshalb mit dem weltlichen Strafsystem vereinbar sein müsste, weil es einer ganz anderen Sphäre gilt, ist falsch. Sitzt der Priester seine weltliche Strafe im Gefängnis ab, ist er dem heilsamen Zugriff der Kirche entzogen.

Die Lösung kann nur sein, dass die Kirche lernt, weltliche Verletzungen, die ihre Leute anrichten, auch weltlicher Sanktionslogik zu überlassen. Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung sind hier und jetzt zu garantieren. Die Versöhnung von Täter und Opfer im Himmel nützt den oft für ihr Leben geschädigten Opfern hier unten nichts.

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