MoMA in Berlin:Das Schlangenritual

Das Warten auf MoMA: Bevor die Schau des Museum of Modern Art am Sonntag endet, können geduldige Besucher rund um die Uhr Kunst genießen.

Von Holger Liebs

Über eine Million Besucher! Bis zu elf Stunden Wartezeit! Es ist ein "Wunder" (Berliner Zeitung), "phänomenal" (FAZ), "überwältigend" (Welt).

In der Tat: Die MoMA-Schau in Berlin hat alle Erwartungen übertroffen. Bis zum Sonntag, wenn Schlag 22 Uhr die Neue Nationalgalerie ihre Pforten schließt, wird das Haus rund um die Uhr geöffnet sein, um dem Andrang gerecht zu werden. Schon werden erste Bilanzen gezogen. Sie sprechen für sich. Für die großen Ausstellungs-Blockbuster scheint sich weltweit eine Schallgrenze von um die 500.000 Besucher einzupegeln; in Berlin werden es wohl knapp 1,1 Millionen bis zum Wochenende gewesen sein.

Das ist enorm, gerade für eine Ausstellung, die Museumsbestände anderswo in neuer Form zeigt. Schauen dieser Art gibt es häufiger in letzter Zeit; auch der jüngste Blutaustausch zwischen Köln und München mit "Blauem Reiter" und Picasso lockte Hunderttausende. Die Suche nach den Gründen des großen Erfolgs trat zuletzt freilich hinter Betrachtungen über das Schlangenritual der Wartenden zurück: Eine beuysianische "soziale Plastik" sollen sie darstellen, ein "Opferritual" im Sinne eines asketischen Kults. Sogar eine spirituelle "Erneuerung der Gesellschaft" soll die Schlange anzeigen. Doch noch wurden keine Besucher gesehen, die sich häuten.

Amerika, du hast es besser

Man kann aber einige Gründe für ihr Ausharren nennen: Das MoMA präsentiert einen neuen Kanon moderner Kunst, der Endgültigkeit suggeriert. Es sind die neuen Alten Meister, die hier zu sehen sind. Sie nicht nur auf Wohnzimmerkalendern, sondern in voller Größe zu bewundern, ist ein Versprechen auf die Aura des Originals. Es hat sich erfüllt - auch weil all die Fotos, Design-Stücke, Alltagsobjekte, ja Videoclips und Websites, die in New York inzwischen auch gesammelt werden und dort das Panorama zeitgemäß abrunden, in der Neuen Nationalgalerie fehlen. Die Foto-Ausstellung einer privaten Galerie und ein paar Stühle im Kunstgewerbemuseum, die in jedem Designershop zu finden sind, boten keine echten Ergänzungen.

Dass die Kunst im 20. Jahrhundert den "Ausstieg aus dem Bild" erprobte, dass sie auch mit Alltag und Trivialkultur nicht nur flirtete, sondern dass diese zum kulturellen Erbe der Epoche zählen, bleibt im grandiosen MoMA-Bilderreigen weitgehend ausgeklammert - wie auch einige wichtige europäische Nachkriegs-Positionen. Diese Beschränkung aufs seltene, einzigartige Meisterwerk mag legitim sein. Erst durch sie entstand auch der sensationelle MoMA-Sog, wurde das Museum als Ausstellung zum Phänomen.

Wie notwendig die Übererfüllung des Solls war, sieht man jedoch an dem überzogenen Verteidigungsreflex gegenüber der Kunstkritik: Wer es wagte, die starke Präsenz amerikanischer Nachkriegskunst zu kritisieren, wurde des Amerikahasses geziehen. Die schiere Zahl der Besucher spreche wohl für sich. Und das stimmt ja auch. Jeder soll sein MoMA-Erweckungserlebnis haben! Aber das Geschäft der Kunstkritik sind nun einmal Unterscheidung und Urteil.

In der nächsten Woche wird die Sammlung Friedrich Christian Flicks ausgestellt - einmal mehr wohl nur auf Zeit. Was in Vergessenheit zu geraten droht, sind die Berliner Museen. Ein Symptom dafür ist der Köhler'sche Vorschlag, sie in einer "Best-of"-Schau zu präsentieren. Kurzfristige Erfolge dürfen nicht die museale Kärrnerarbeit ersetzen; neben den Blockbustern muss auch die Sammlungspflege wieder stärker in den Vordergrund treten. Auch sie lohnt sich zahlenmäßig. Wie es gehen kann, zeigen große Museen weltweit. Die noch junge Tate Modern haben seit ihrer Eröffnung vor vier Jahren etwa 14 Millionen Menschen besucht.

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