FC Schmiere:"Bitte eine andere Tonart, du Arschloch!"

Vor 50 Jahren gründete Sammy Drechsel die Lach- und Schießgesellschaft - auf dem Platz kickten die Kabarettisten um Dieter Hildebrandt und ihre prominenten Gäste von Fritz Walter bis Gerhard "Acker" Schröder als FC Schmiere.

Thomas Becker

Es ist ewig her, und doch weiß Helmut Müller alles noch ganz genau: "Mein erstes Spiel? 30.Dezember '78. Sechsvier für uns. Sammy brauchte noch sein 100.Tor in diesem Jahr, wie immer. Nach dem Spiel hatte er erst 96. Also sagt er: Mach' für morgen noch eins aus! Und so haben wir auch an Silvester gespielt, 14 Uhr, Neubiberg. Sammy hat zwei Tore gemacht, stand also bei 98. Wie so oft hat er dann einfach länger spielen lassen - aber nicht mehr getroffen. Irgendwann wollten die anderen heim: Wir haben Gäste zuhause, es ist Silvester. Dann sind sie vom Platz gegangen - und Sammy war stinksauer."

Eine typische Geschichte. Typisch für Fußballverrückte im Allgemeinen - und für Sammy Drechsel im Besonderen. Der Mann - mit bürgerlichem Namen hieß er Karl-Heinz Kamke - hat nicht nur zusammen mit Dieter Hildebrandt die Kabarettinstitution Lach- und Schießgesellschaft gegründet. Sondern er war auch Kapitän und Mittelstürmer der wohl schillerndsten Prominenten-Elf der Republik, des FC Schmiere. Das Kabarett feiert heute sein 50-jähriges Bestehen. Und damit auch der FC Schmiere.

Sammy Drechsel und der Fußball: "Das hat ihn am allermeisten auf der Welt interessiert", sagt der Ex-Lach-und-Schießer Rainer Basedow, 68. "Kabarett kam erst viel später." Drechsel, Jahrgang '25, war Regisseur des Dokumentarfilms "Fußball-WM 1954", schrieb im selben Jahr mit "Elf Freunde müsst ihr sein" die Kicker-Bibel schlechthin, eine Aufarbeitung seiner Jugend im Berliner Sportverein 92.

Als Sportreporter wechselte er nach einer wilden Zeit als Sensationsreporter von Berlin nach München und versammelte von 1957 an auf dem Jahn-Sportplatz im Münchner Norden ein Rudel Fußballnärrischer um sich: die Reporter-Kollegen Harry Valérien und Franz Schönhuber; mit dabei: ein gewisser Dieter Hildebrandt..

Helmut "Heli" Müller, 55, organisiert seit vielen Jahren all die Benefiz- und Einlagespiele. Seit Anfang der 60er Jahre hat der FC Schmiere 2118 Partien absolviert, 1539 Siege, 366 Niederlagen, Torverhältnis: 11948:6838. Peinlich genau wird Statistik geführt, in einem schmucklosen blauen Klarsichthefter. Hinter den Zahlen stecken ungezählte Anekdoten. Über den Schröder Gerd zum Beispiel, der sich als Rechtsaußen im ersten Spiel nicht an die goldene Regel hielt: Tore schießt erst mal der Sammy!

Der forsche SPD-Mann netzte zwei Mal ein - "aber dann hat ihn der Sammy schön zusammengefaltet", erinnert sich Basedow. "Drechsel war auf dem Platz wie ein Geisteskranker, hat alle angeschrien, auch Nationalspieler beleidigt. Die meisten haben's sich gefallen lassen. Nur Hennes Küppers ist mal vom Platz gegangen."

Oder die Gaudi mit dem Kölner Oberbürgermeister. "Der war weit über 70", erzählt Basedow, "konnte kaum noch laufen. Da musste Toni Turek neben das Tor springen, damit der trifft. Und dann hat Helmut Rahn den Turek zusammengeschissen - aus Spaß. Die Leute haben gegrölt."

Zwischen dicken Aktendeckeln lagert im Büro der Lach- und Schieß die FC-Schmiere-Korrespondenz: eine Schatzkiste. Da ist der Brief des Schiedsrichters August H., der im September '68 dem Rechtsaußen Dieter Hildebrandt die rote Karte gezeigt hatte. "Bitte eine andere Tonart, du Arschloch!", hatte dieser gepöbelt. Drechsel und Kollegen wollten ihn beim Schiri in Schutz nehmen - doch Hildebrandt bestand auf seiner Wortwahl.

Oder die Trikotbestellung im Juli '79, als adidas schrieb: "Herr Werner Schneyder ist für die normale Produktion zu groß." Gab's halt eine Sonderanfertigung für den Schlaks, Brustumfang: 108, Bund: 100, Schrittlänge: 92. Wunderbar auch die Anreden: Den Münchner Polizeipräsidenten Manfred Schreiber herzte Drechsel mit den Worten "Lieber Manni, mein großer Obersheriff". Der Präsident des Bayerischen Fußballverbands begann die Korrespondenz auf offiziellem Briefpapier schon mal mit "Verfluchter Himmelhund".

"Du Schorsch, hör mal..."

Man konnte ihm nicht böse sein, auch wenn er fies sein konnte. "Sammy war manchmal peinlich bis zum Erbrechen, richtig widerlich", erzählt Basedow. Geliebt haben sie ihn trotzdem alle, die Kabarettisten, die Kicker, die Promis.

Mit seinen guten Kontakten zauberte er Titelstorys in die Zeitungen ("So ein Spiel sah Ulm noch nie", Schwäbische Donauzeitung, Juni '66), trat gegen eine Bundestags-Auswahl an (7:4 für Schmiere, April '64) und machte selbst wegen Eis gesperrte Plätze spielbar. "Der Platzwart ließ uns nicht aufs Feld", erzählt Heli Müller, "da fragt ihn Sammy: Wer ist dein Chef? Bürgermeister Kronawitter, hieß die Antwort. Sekunden später hängt Sammy am Telefon: Du Schorsch, hör' mal..."

Müller musste ständig Spiele organisieren, "manchmal mehr als 80 im Jahr - kein Profi spielt so viel". Jeden Samstag, auch im Winter, wurde auf der Bezirkssportanlage an der Chiemgau-/Görzerstraße gebolzt, morgens um halb elf - nachmittags kommentierte Drechsel ja oft aus dem Stadion. Auf den Tourneen der Lach- und Schieß gehörte der Kick vor dem Auftritt so selbstverständlich dazu wie das Gläschen danach. Die Gage gab es nicht nur für kabarettistische, sondern auch für fußballerische Leistungen.

Sammy Drechsel hat gekickt bis zum Schluss. An seinem 60.Geburtstag gab es drei Prominenten-Spiele hintereinander - Drechsel spielte bei allen mit. "Am Tag danach rief er an", erzählt Rainer Basedow, "und sagt: Dicker, bei mir is' irjendwas nich in Ordnung. Ich hab' das Jefühl, ich hab' 'nen Fußball verschluckt und irjendeener pumpt den immer uff." Es war kein Fußball. Es war Krebs. "Danach wurde er immer weniger und sagte noch Sätze wie: 'Ich bin zwar nur 60 und ich werd' auch nich' mehr. Aber jelebt hab' ich für 120.'"

Fußball hat er immer noch gespielt. Bis einen Monat vor seinem Tod. "Er wollte unbedingt sein 1500.Tor schießen." Er schoss es, kurz vor Weihnachten, im Schnee. Am 19.Januar '86 verlor der FC Schmiere seinen Kapitän und Mittelstürmer. "Wir haben ihm sein Trikot ins Grab gelegt", erzählt Heli Müller, "seitdem gibt es bei uns keinen Neuner mehr."

Der FC Schmiere lebt weiter, auch wenn die Spiele weniger und die Helden älter werden, Paul Breitner kickt auch mit 55 noch flott. Mit Till Hofmann, 36, sitzt der nächste Fußballverrückte auf Drechsels Lach- und Schieß-Posten. Seine neue Bühne heißt Vereinsheim, an den Wänden hängen Schmiere-Fotos, Schmiere-Wimpel, im Hirschgeweih baumeln die letzten Profi-Kickstiefel von Jens Jeremies. An Sammy Drechsels Geburtstag im April tritt der FC Schmiere wieder an. Und ein paar Kilometer weiter oben wird sicher jemand zuschauen. Er wird ein Fußballtrikot tragen - das mit der Neun.

Mehr Bilder und Geschichten unter www.sueddeutsche.de/schmiere

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