Vertonter Virus:Der große Zerstörer

Wird die Menschheit kollektiv unter Drogen gesetzt? Die Nine Inch Nails errichten auf dem Album "Year Zero" eine düstere Utopie, die im Internet fortgeschrieben wird.

Christian Kortmann

Gerade ist der Nine Inch Nails-Tourbus vor einem Münchner Hotel angekommen. In der Mitte des kühl gestylten Hotelfoyers stapelt sich ein Haufen aus schwarzen Taschen, die alle die weißen Buchstaben "NIN" tragen. Die ehemalige Undergroundband Nine Inch Nails aus den USA, die 1994 in einer nie gehörten Melange aus Lärm und Funk "I want to fuck you like an animal!" grölte, ist zu einem mittelständischen Unternehmen mit Corporate Identity geworden.

Nine Inch Nails

Trent Reznor

(Foto: Foto: AP)

Wenig später sitzt einem Trent Reznor, Kopf und einziges festes Mitglied der Band, gegenüber und erklärt, wie er sein neuestes Album "Year Zero" am Markt platziert hat. In einer viralen Werbekampagne begann Reznor vor Monaten, Hinweise auf das Werk zu streuen. Er hinterlegte einen UBS-Stick mit einem Videoclip auf der Toilette einer Lissabonner Konzerthalle. In jedem Hinweis verbarg sich der nächste, die NIN-Fans sorgten via Internet für deren Verbreitung, die Album-Vorfreude wurde durch die digitale Schnitzeljagd angeheizt.

Man findet im Netz mehrere zu diesem Zweck kreierte Websites, die das düstere Bild einer Verschwörung errichten, in der die Menschheit kollektiv unter Drogen gesetzt wird, um nicht gegen die politischen Lügen aufzubegehren. Dem entsprechen die Botschaften der neuen Songs: "Turn it up / Listen to the shit they pump into / Your head", heißt es in "The Great Destroyer".

Konzeptalbum gegen Bush

"Ich wollte ein Konzeptalbum gegen die Politik von George W. Bush machen, ihn aber nicht direkt ansprechen, sondern die Probleme unseres Landes auf einer höheren Ebene verhandeln", sagt Reznor und schlägt die Beine entspannt übereinander: "Es ist gut, dass es Leute wie Michael Moore gibt, aber meine Form der Kritik sieht anders aus."

Reznor ist ein angenehmer Gesprächspartner, er antwortet immer so, als würde man den ganzen Tag mit ihm verbringen. Er wirkt sachlich und aufgeräumt und spricht reflektiert über die Theorie des Internet: Dass sich das Musikgeschäft durch das Netz wandelt, akzeptiert er als Kraft des Faktischen, schließlich lade er selbst Songs herunter. Das Internet sei zu seiner Hauptinformationsquelle geworden - dass dort jeder veröffentlichen könne, habe eben Vor- und Nachteile. Diese Offenheit und Unschärfe nutzt er mit seinem Virus ja gezielt aus, indem er die Verschwörungselemente wie authentische Nachrichten designt.

Herausgekommen ist dabei eine für den Pop typisch eklektizistische Dystopie, die Orwells "1984", linke Fundamentalkritik und abstruse Verschwörungstheorien vermengt und als Thriller inszeniert: ein "Da Vinci Code" für Industrial-Rock-Fans. Für Reznor ist es die Ausweitung seines Konzeptalbums ins Netz, er habe das "coolste Plattencover der Welt" erschaffen wollen. Doch wie es so ist mit dem Netz: Hat man den Computer ausgeschaltet, ist das Internet sofort ganz weit weg, und die Sinne verlangen nach unmittelbareren Eindrücken.

Auf der Anrichte des Münchner Hotelzimmers steht die HiFi-Anlage, auf der einem die Pressedame der Plattenfirma soeben "Year Zero" vorgespielt hat: Grundiert von tiefen Tönen, nah am Infraschall, und einem großen Knarzen und Sägen, bei dem durchaus diverse Baumaschinen zum Einsatz gekommen sein könnten. Damit legen die Nine Inch Nails ein für ihre Verhältnisse langsam-bedächtiges Album vor. Die Songs beginnen meist ruhig und melodisch, doch kurz vor der Depeche-Mode-Grenze setzen die Störgeräusche ein, die manchmal an Computerspieltöne der Achtziger erinnern, die durch alles an Soundbearbeitungstechnik gelaufen sind, was seitdem entwickelt worden ist.

Zwischendurch gelingen Reznor wieder groovende Kracher, wie sie das Vorgängeralbum "With Teeth" prägten: Der Song "The Beginning of the End" etwa, der kein Gitarrensolo im ursprünglichen Sinn enthält, sondern ein Rückkoppelungs-Elektroexperiment. Man merkt, dass der Laptop Reznors liebstes Kompositionsinstrument ist.

Früher musste er gegen den Computer kämpfen, heute sei er ein "inspirierender Partner", viele Songs wären ohne Computer nicht entstanden. "Year Zero" hat er mal wieder ganz alleine geschrieben und eingespielt - da fällt kein Ton aus dem Programm. Mit dem Live-Sound auf der NIN-Tournee ist Reznor hingegen überhaupt nicht zufrieden: Hallenakustiken und Tourmusiker sind nunmal unkalkulierbar.

"Jetzt wird es langsam wieder normal"

Punktuell löst Trent Reznor seinen Anspruch ein, mit Hilfe von Rechner und Netz ein multimediales Gesamtkunstwerk zu schaffen: Auf der Website anotherversionofthetruth.com sieht man ein amerikanisches Idyll, das Star-spangled banner weht über einer Farm und wogendem Korn. Auf den ersten Blick hat die Site keinerlei Funktionen. Dann merkt man, dass sich mit der linken Maustaste die Oberfläche freirubbeln lässt. Dahinter verbirgt sich eine kriegszerstörte Trümmerlandschaft.

Der gleichnamige Song, "Another Version of the Truth", liefert den Soundtrack dazu: Reznor spielt vor düsterem Rauschen eine tröstende Melodie auf dem Flügel - Wiegenlied oder Requiem? Das Klavier stehe für beides, sagt Reznor: "Auf diesem Album voller harscher, unwirtlicher Elektrosounds ist das Piano das fühlbar Vertraute."

Reznor scheint die Mitte seiner Musik gefunden zu haben. In den Anfängen der Nine Inch Nails wechselten sich melodische Songs mit dezidiert unhörbaren ab. Jetzt bewegen sich die einzelnen Stücke, etwa "Vessel", zwischen diesen Polen - man findet die Wahrheit also noch in der Musik und nicht im Werbe-Virus.

Ob dem Musiker, der viel mit Gewichten trainieren soll, angesichts der leibhaftigen Eindrücke des Sports das Netz, in das er so viel Mühe investiert, nicht manchmal als bloße Illusion erscheint? "Ich bin jetzt seit sechs Jahren nüchtern", antwortet er, der seine Drogensucht einst im Song "Hurt" besang, "Work Out war für mich eine Übung in Disziplin. Ich habe das extrem betrieben, jetzt wird es langsam wieder normal."

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