Gespräche mit Zeitzeugen:Was wussten die Deutschen von der Vernichtung der Juden?

"Was der Mensch nicht sehen will, nimmt er nicht zur Kenntnis": Heute vor 60 Jahren wurde Auschwitz befreit. Zeitzeugen erinnern sich.

Von Franziska Augstein

"Hitler, der Mistkerl, hat uns verführt", sagt der ehemalige SS-Angehörige, der später ins Personalmanagement ging. Sport! Motorradfahren! Eine Karriere! Alles das gab es unter Hitler.

Auschwitz,AP

Eine Mutter mit Kindern im Konzentrationslager.

(Foto: Foto: AP)

Zur Kriminalpolizei hatte der Mann gewollt, das hatte auch geklappt. Dann aber wurde die Kripo ins Reichssicherheitshauptamt eingegliedert - "da konnte man nur noch hoffen, nicht plötzlich zu einer Einsatzgruppe abkommandiert zu werden".

Dem rangniederen SS-Führer blieb ein solcher Einsatz erspart, nicht aber seinem Mitarbeiter: Der kehrte nach einem Vierteljahr aus dem Osten zurück, mochte nicht erzählen, was er dort gemacht hatte, und war vier Wochen später tot: Er hatte sich in einer Dienststelle des RSHA ins Treppenhaus gestürzt. Ungefähr 1942 ist das gewesen.

Den Vernichtungskrieg, für den er am Ende nicht robust genug gewesen war, hatte dieser SS-Mann höchstwahrscheinlich mitgemacht. Er hatte seine Taten in sich verschlossen.

Aber viele andere hielten mit ihren Kenntnissen nicht hinterm Berg. Sie redeten, in Andeutungen oder unverhohlen, sie sprachen mit Vertrauten und manchmal sogar in aller Öffentlichkeit, wie es zum Beispiel (in den Nürnberger Prozessakten ist es nachzulesen) ein Arbeiter des IG-Farben-Werkes Auschwitz-Monowitz tat, der auf einer Zugfahrt den Mitreisenden von den Krematorien erzählte.

Was wussten die damaligen Reichsdeutschen davon, dass die Verfolgung der Juden sich nicht in Enteignung und "Umsiedlung" erschöpfte? War man damals im Bilde über die systematische Ermordung ungezählter Menschen, in diesem Land, dessen Bevölkerung im großen und ganzen bereit war, den Führer für einen großen Mann zu halten?

Als der Krieg zu Ende ging, war Angela Fürstin Fugger 10 Jahre alt. Erolzheim, wo das Schloss der Fuggers stand, war so klein, dass es ihrer Erinnerung nach dort nicht einmal eine HJ-Gruppe gab. Juden gab es auch nicht in dem Marktflecken.

Die Fürstin Fugger sagt, sie habe als Kind "null" von der Judenverfolgung gewusst, an NS-Propaganda kann sie sich nicht erinnern, den Stürmer habe sie nie gesehen. Die Mutter sollte zur Ortsgruppenleiterin geschult werden, vermisste bei dieser Schulung aber die Ehrfurcht vor der Religion, weshalb sie sich brieflich abmeldete: Das Ganze gehe gegen ihre religiöse Überzeugung.

Der Brief wurde von einem wohlmeinenden NS-Funktionär kassiert, der offiziell erklärte, die Mutter sei von zu schwacher Gesundheit für das Amt. "Dann wurde darüber nicht mehr gesprochen." Ein Onkel, erzählt die Fürstin, müsse damals etwas Falsches gesagt haben: Der sei dann eine Zeit lang in Dachau gewesen. Ihres Wissens hat er weder damals noch später davon gesprochen - "er wusste, warum".

Schon wieder drin

In den dreißiger Jahren ging in Berlin ein Witz um: Kommt ein Mann zurück aus dem KZ. Fragen ihn die anderen: Wie war's denn? Na, sagt er, schön war's: Morgens gab's Frühstück ans Bett, dann nahm man ein warmes Bad, ging spazieren... Ach, sagen die anderen, da ist aber neulich einer aus dem KZ gekommen, der hat etwas ganz anderes erzählt. Ja, sagt der Mann, der ist auch schon wieder drin.

Auf dem Land mochte es möglich sein, nichts davon mitzubekommen, was mit den Juden geschah. In den Städten war es ausgeschlossen. Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, Sohn eines Richters, der nur noch Zivilsachen machte, verbrachte seine Kindheit in Halle.

Im November 1938 sah er lauter Möbel auf der Straße liegen. 1941, Hirsch war damals zwölf Jahre alt, sah er, wie eine Frau mit dem gelben Stern sich vor den Passanten - vor ihm! - an eine Hauswand drückte. "Die Frau sehe ich heute noch vor mir." Er hat es nicht verstanden, aber "niemand hat mir Auskunft gegeben". Dass es KZs gab, wusste er. Sie hießen "Konzertlager". Asoziale kamen da hin. Das Bild der Frau mit dem gelben Stern war damit jedoch nicht erklärt.

Was wussten die Deutschen von der Vernichtung der Juden?

Was war Demokratie? Was Kommunismus? Was Rotfront? Hirsch wusste es nicht. Dass die Juden deportiert wurden, sagt er, sei unübersehbar gewesen. "Erste verlässliche Informationen über den Mord im Osten" habe er aber erst im Sommer 1945 von einem Heimkehrer erhalten. Bis dahin sei über alles Wesentliche nicht gesprochen worden. Die Angst vor Strafen, das Misstrauen sei ja bis in die Familien hinein eingewurzelt gewesen. "Deshalb", sagt der freidemokratische Politiker, "habe ich mich ja auch über Schilys Wanzen so aufgeregt."

Wer sitzt am Nebentisch?

In manchen Haushalten wurde offen geredet. Die konservative Berliner Familie Bender nannte Hitler "den Strolch", Bekannte wurden in Nazis und Nicht nazis eingeteilt. Peter Bender, der nach dem Krieg Journalist wurde, erinnert sich daran, dass man beim Politisieren in der Kneipe oft von der Sorge überfallen worden sei: Wer sitzt am Nebentisch, war unsere Unterhaltung zu laut?

Freimütig wurde auch in der Familie Benda gesprochen, dies schon deshalb, weil ein Großvater des späteren Bundesverfassungsrichters Jude war und also in Gefahr. Dennoch, sagt Ernst Benda, hätten er und seine Familie keine Ahnung gehabt, was mit den deportierten Juden wirklich geschah. Die Namen "Auschwitz", "Buchenwald" kannte er nicht, allenfalls "Theresienstadt".

Diese Unkenntnis mutet nur aufs erste verblüffend an. Entscheidend war, in welchen Kreisen man verkehrte. Die Mörder wussten, was sie taten. Ihre potentiellen Opfer ahnten vieles; je besser sie im nationalsozialistischen Alltagsleben integriert waren, desto weniger wussten auch sie.

Victor Klemperers Tagebüchern kann man entnehmen, dass der Dresdner Romanist schon Anfang 1942 die Wörter Deportation, Juden, Arbeitslager, KZ und Tod in einem Atemzug dachte. Am 17. Januar 1942 berichtete Klemperer, ein Freund habe Angst, "dass Judentransporte bei der Ankunft abgeschossen würden". Angesichts "des ungeheuren Mangels an Arbeitskräften" hielt Klemperer das für unwahrscheinlich: "... was kann ein toter Jude arbeiten?"

Er fürchtete den Tod

Der Strom der Nachrichten riss nicht ab - "unter den sechs- bis siebenhundert noch hier befindlichen Juden gibt es x Verbindungen". Am 1. März war Klemperer schon gewisser: "Es liegt jetzt so, dass KZ offenbar identisch mit Todesurteil ist." Am 27. Juli 1942 konstatierte er: "An mir spart man nach Beseitigung eine Pension." Freilich, Klemperer fürchtete den Tod "beim Arbeitseinsatz in Polen". An schlichten Mord dachte er noch nicht.

Wie es auf dem Ostfeldzug zuging, erfuhr die Familie Ernst Bendas von einem Soldaten: Der junge Mann hatte als Monteur einige Wochen an der Heizungsanlage des Berliner Hauses gearbeitet, in dem Bendas wohnten.

Ende 1942 klingelte er an der Tür, nun war er Soldat auf Urlaub: Er sei in Russland gewesen und müsse darüber mit jemandem sprechen, ob Frau Benda Zeit für ihn habe. Frau Benda hatte, und so erzählte der Mann ihr und dem Sohn, er sei dabei gewesen, wie Juden erschossen wurden. Die Zuhörer waren erschüttert: Warum hatte der ihnen nur flüchtig bekannte Handwerker sich ausgerechnet ihnen anvertraut?

Was wussten die Deutschen von der Vernichtung der Juden?

1988 stellte das Allensbacher Institut eine Umfrage an: Deutsche, die damals mehr als sechzig Jahre alt waren, sollten sagen, wann sie zum ersten Mal von der massenhaften Vernichtung der Juden erfahren hätten. Die Hälfte gab an, das sei erst nach Kriegsende geschehen. 27 Prozent sagten, sie hätten zwischen 1940 und 1944 davon gehört. Sieben Prozent meinten gar, schon 1939 informiert gewesen zu sein. Letzteres ist schlechterdings unmöglich.

Worte mit Taten verwechselt

Wenn diese Leute rückblickend sagten, von der Vernichtung schon zu einem Zeitpunkt eine Vorstellung gehabt zu haben, da diese in den national sozialistischen Tiraden - "der Feind muss vernichtet werden", "die Juden werden bezahlen" - erst avisiert wurde, so gibt es dafür zwei mögliche Gründe: Viele wollten sich beim neuen Zeitgeist anbiedern und haben Worte mit Taten verwechselt.

Andere aber mögen sich nur noch daran erinnert haben, dass sie eben nicht aus allen Wolken fielen, als sie vom Ausmaß der Verbrechen erfuhren. Und daraus mögen sie geschlossen haben, sie hätten von Anfang an Bescheid gewusst.

Diesen Streich spielt die Erinnerung der ehemaligen Bundestagspräsidentin Annemarie Renger. "Ich wusste alles", sagt sie, was auch soviel heißt wie: In Ihrer Familie traute man den Nazis alles zu. Die Tochter des Sozialdemokraten Fritz Wildung war 1939 zwanzig Jahre alt. Sie kannte damals nicht wenige Genossen, die in ein KZ gesperrt wurden: "Wir hatten Angst, dass sie umgebracht würden."

Was für die Sozialdemokraten galt, traf bald auch auf die Juden zu. Aber wann sie von Massenerschießungen gehört hat, von Gaskammern und Krematorien, kann Frau Renger nicht sagen.

Kein Brief an den Führer

Sie warnt: "Man muss vorsichtig sein, bevor man sagt: alle konnten es wissen. Die Mehrzahl war damals genauso unpolitisch wie heute." Die Leute erlebten, wie ihre Nachbarn verschwanden, sie haben bei den gelegentlichen Versteigerungen die Habe der verschwundenen Juden für einen Apfel und ein Ei erworben und sahen keinen Anlass, sich zu fragen, was aus den Menschen wurde, die da "evakuiert" oder "umgesiedelt" worden waren.

Der Antisemitismus tat ein übriges. Wer die Verfolgung der Juden für eine an sich richtige Sache hielt, wird sich hinterher nicht an ein Verbrechen erinnern.

Carola Stern wusste, dass die Juden verfolgt wurden, zugleich war sie überzeugt, dass die "den Deutschen vieles angetan hatten". Schon 1933 - mit sieben Jahren - "hatte ich ein festes Feindbild: Sozialisten, Kommunisten, Doppelverdiener, Freimaurer, Juden". Auf der Insel Usedom, wo sie ihre Jugend verbrachte, lebte auch die unglückliche Frau He nius. Ihr Mann, ein jüdischer Verleger, war in Auschwitz - bekanntermaßen ein schlimmer Ort.

"Wenn du nicht artig bist, kommst du ins KZ", war der kleinen Carola ein paar Mal gesagt worden. Ihre Mutter hat Frau Henius, die ihr leid tat, "immer zum Kaffee eingeladen", aber den Brief an den Führer, um den Frau Henius sie um ihres Mannes willen bat, hat sie, die Frauenschaftsleiterin war, nicht geschrieben. "Es gab keine Gegenwelt", sagt die Publizistin Carola Stern heute. Und: "Was der Mensch nicht sehen will, nimmt er nicht zur Kenntnis."

Niemand griff ein

Als die mittlerweile achtzehn Jahre alte Carola 1944 mitbekam, wie Zwangsarbeiter geprügelt wurden - "ich hörte die Schreie" -, war sie entsetzt. "Aber niemand hat gesagt: Das darf man nicht tun."

Während im Deutschen Reich die Angst, das Verschweigen und die Unwissenheit um sich griffen, je mehr Juden deportiert wurden und je schlechter es mit dem Kriegsglück stand, war das Ehepaar Nagel in Budapest genötigt, dem keine zehn Jahre alten Sohn Ivan alles zu erzählen: Einige tschechische Verwandte flohen vor den reichsdeutschen Häschern unter falschen Namen nach Ungarn, wo die Wehrmacht erst 1944 einmarschierte.

Damit der Sohn sie nicht versehentlich verriete, musste er wissen, warum er den Mund zu halten hatte. "Meine Eltern erzählten mir, dass es Lager gebe, mit elektrischem Stacheldrahtverhau und mit Schäferhunden, die würden die Leute beißen." Danach habe er die ganze Nacht lang geweint, sagt Ivan Nagel.

Nach dem Krieg ist er trotzdem nach Deutschland gegangen. Das Schweigen, das dort in den dreißiger Jahren eingesetzt hatte, hielt an. Nagel selbst offenbarte sich nicht, über die Ermordung eines Teils seiner Familie hat er mit niemandem gesprochen. "Ich wollte halt ein neues Leben anfangen", sagt er, "ich habe auch geschwiegen."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: