Volker Koop: "Dem Führer ein Kind schenken":Die Ehe, satanisch

Mit dem "Lebensborn" wollte Heinrich Himmler die Geburtenrate erhöhen und eine "neue Volksmoral" begründen. Die bisher gründlichste Darstellung der SS-Organisation beruht auf Archivfunden.

Alexander Kissler

Dieses Buch erscheint zu spät. Bei zeitiger Lektüre hätte womöglich ein südwestdeutscher Ministerpräsident es sich noch einmal überlegt, ob er gut beraten war, sein Ländle als "Kinderland" zu positionieren. "Deutschland muss wieder Kinderland werden" war nämlich auch der Wahlspruch des Leiters des ersten nationalsozialistischen "Lebensborn"-Heimes.

Lebensborn

Volker Koop, Dem Führer ein Kind schenken. Die SS-Organisation "Lebensborn e.V." Böhlau Verlag, Köln 2007. 306 Seiten, 24,90 Euro.

(Foto: Foto: Böhlau)

Womöglich hätte auch eine norddeutsche Fernsehmoderatorin ihre Gedanken zu Hitlers Familienpolitik noch einmal bedacht. Hier nämlich lesen wir: "Die Würde von Frau und Mann, besonders der Frau, spielte für die Nationalsozialisten keine Rolle, sie brauchten Kinder und nochmals Kinder" - Kinder für den Endsieg.

Früher hätte dieses Buch aber nicht erscheinen können. Der Berliner Zeithistoriker Volker Koop musste sich auf eine lange Reise begeben zu den Archiven der Republik. In Berlin, München, Potsdam, Stuttgart, Hannover, Leipzig und zehn weiteren Orten wurde er fündig. Entstanden ist eine gedrängte, außerordentlich instruktive Darstellung, die fast nur auf Archivfunden beruht. Bedauern mag man, dass keine Diskussion mit der Fachliteratur stattfindet. Das neu entdeckte Material entschädigt dafür reichlich.

"Kinder mit bestem Blut"

Schreibimpuls war wohl des Autors Zorn über die "arglosen" Richter von Nürnberg. Bei den Kriegsverbrecherprozessen kam es zu keiner einzigen Verurteilung wegen Aktivitäten für die SS-Organisation "Lebensborn e.V." Deren Selbstbild wurde Teil des Freispruchs, in dem es heißt, der Verein sei eine "Wohlfahrtseinrichtung und in erster Linie ein Entbindungsheim" gewesen; er habe "im Allgemeinen keine ausländischen Kinder ausgewählt und überprüft".

Zum gegenteiligen Ergebnis gelangt Volker Koop. Der "Lebensborn" war demnach "wesentlich an der Deportation der Kinder und Jugendlichen" in den besetzten Ländern Ost-, Nord- und Westeuropas beteiligt. Koop nennt den Verein ein Wirtschaftsunternehmen und eine verbrecherische Organisation, die "allein der nationalsozialistischen Rassenpolitik diente".

Alles andere wäre kaum plausibel, denn, wie Koop zurecht schreibt, "Heinrich Himmler war sozusagen der 'Lebensborn'." Damit wurde der Rassenhass Geschäftsgrundlage. Der "Reichsführer SS" schwadronierte von der "Frage des Kindes" als der "Lebensfrage der Nation", dachte dabei jedoch nur an "gutrassige Kinder" mit "bestem Blut". Uneheliche Geburten wollte er im Namen einer antibürgerlichen, antichristlichen "neuen Volksmoral" aufwerten. Wo auch immer ein deutsches Kind zur Welt komme, gebühre der Mutter Respekt, der "Hüterin unserer Art und Rasse".

Mit dieser Formulierung aus einer Dienstanweisung für die Heime des "Lebensborn" ist deren ganzer Zweck ausgesprochen. Kein "Volksgenosse" sollte verloren gehen, keine Abtreibung nötig sein. Deshalb gründete Himmler im Dezember 1935 den "Lebensborn". Das erste und größte Heim wurde am 15. August 1936 im oberbayerischen Steinhöring bei Ebersberg eröffnet. Bis Kriegsende kamen in den acht Mütter- und zwei Kinderheimen im "Altreich" rund 11 000 Menschen zur Welt.

Von den Niederlassungen auf besetztem Gebiet gibt es keine exakten Zahlen. Allein in Dänemark und Norwegen wurden jeweils rund 6000 Kinder betreut und indoktriniert. Diese waren Waisen, "erscheinungsbildlich und erbbiologisch besonders wertvoll" und somit einer "Eindeutschung" fähig, wie es im NS-Jargon hieß. Oder es handelte sich um Kinder von Wehrmachtsoldaten und einheimischen Frauen.

Kinderraub und Kinderumerziehung ließen sich längst nicht mit der Satzung vereinbaren. Der "Lebensborn" sollte diskret außereheliche Geburten ermöglichen. Der SS-Mann konnte seine Geliebte, überdurchschnittlich oft eine kaufmännische Angestellte, entbinden lassen, ohne dass die Ehefrau davon erfuhr. Himmler hatte als Norm ausgegeben, die "Pflicht gegenüber seinen Ahnen und unserem Volk" erfülle nur, wer mindestens vier Kindern das Leben schenke - ob innerhalb oder außerhalb der Ehe, mache keinen Unterschied. Die Monogamie schalt Himmler "das satanische Werk der katholischen Kirche". Nie jedoch war der "Lebensborn" jene Zuchtanstalt zum organisierten Beischlaf, als die er in mancher Phantasie weiterlebt bis heute.

Nimmermüder Gang zu den Quellen

Die im Schnitt 25 Jahre alten Frauen, die zwischen zwei und 15 Wochen blieben und ihr Kind zur Adoption freigaben oder es nach einer Frist zu sich holten, wurden ideologisch unterrichtet. Einem Schulungsplan aus dem Heim "Friesland" bei Bremen zufolge behandelten Pflichtveranstaltungen die "Feinde des deutschen Volkes", also "das Judentum, das Untermenschentum, die Freimaurerei, den Bolschewismus". Statt Taufen fanden "feierliche Namensgebungen" statt. Der Heimleiter hielt einen SS-Dolch über das Baby und fragte: "Deutsche Mutter, bist du bereit, dein Kind zu erziehen im Glauben an Adolf Hitler?". Anschließend trank man Kaffee.

Der "Lebensborn" war nicht nur eine deutsche, sondern auch eine bayerische Angelegenheit. Neben dem gebürtigen Münchner Heinrich Himmler stand ein Arzt aus Kirchseeon an der Spitze, Gregor Ebner. Und "vor allem in München war der 'Lebensborn' Nutznießer beschlagnahmten jüdischen Eigentums". Die Zentrale befand sich von Dezember 1937 bis Dezember 1938 in der Poschingerstraße 1, in der enteigneten Villa Thomas Manns, anschließend in der Herzog-Max-Straße. Ebner nahm auch die "rassenbiologische" Bewertung von Kindern vor, die aus Polen oder vom Balkan in ein Heim gebracht worden waren. Sein Urteil konnte Zwangssterilisation, Zwangsadoption oder den Tod in einer Euthanasieanstalt bedeuten.

Leider ist die Lektüre nicht nur wegen des Themas eine zähe Angelegenheit. Koop zählt nicht unbedingt zu den Stilisten, die Gliederung ist ungeschickt, und im Dickicht der Zahlen hätte man sich einen beherzteren Dirigenten gewünscht. Doch das schmälert die Bedeutung dieser Fleißarbeit keineswegs. Der nimmermüde Gang zu den Quellen hat sich gelohnt. Die typisch nationalsozialistische Verquickung von Terror und Modernität, Rassenhass und Fürsorge, Mord und Reinlichkeit wird nirgends so deutlich wie an der Geschichte des "Lebensborn".

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