Abschied vom Sozialstaat:Horrorszenario Agenda 2020

Wie wird sich der Staat sanieren? Indem er nach dem Matthäus-Prinzip wieder Sozialleistungen kürzt: Wer hat, dem wird gegeben. Wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen.

Christoph Butterwegge

Zu den absehbaren Folgen der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise gehört nicht nur eine Arbeitslosenzahl, die in Deutschland nach Prognosen der OECD wieder auf fünf Millionen steigen wird. Dazu gehört auch eine zunehmende Verelendung zahlreicher Menschen sowie eine Rekordverschuldung des Staates, von Bund, Länder und Kommunen, das heißt, "öffentliche Armut" in einem vorher nicht bekannten Ausmaß. Irgendjemand muss am Ende die Rechnung für die Bankensanierung, soziale Lasten und die beiden Konjunkturprogramme des Bundes zahlen.

Agenda 2020, Foto: ddp, Montage: sueddeutsche.de

Weil irgendjemand am Ende für die Bankensanierung zahlen muss, werden die Armen noch ärmer.

(Foto: Foto: ddp, Montage: sueddeutsche.de)

Unter diesen Rahmenbedingungen überrascht einerseits, dass CDU, CSU und FDP in ihren Wahlprogrammen ausschließlich Steuersenkungen versprechen, und andererseits, dass die Debatte über Steuer-Erhöhungen, zum Beispiel eine Anhebung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes von sieben auf 19 Prozent, zumindest in der Union bereits vor der Bundestagswahl ausgebrochen ist, und nicht erst danach.

Im Unterschied zur Einkommensteuer richtet sich die Höhe der Mehrwertsteuer, die ein Steuerpflichtiger zahlen muss, nicht nach seiner ökonomischen Leistungsfähigkeit, sondern nach seinem Konsum. Sozial benachteiligte Familien würden unter einer Anhebung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes von sieben Prozent auf Lebensmittel und andere Güter des Grundbedarfs besonders stark leiden, weil sie fast ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken (müssen). Sie sind daher von Erhöhungen dieser reinen Konsumsteuer automatisch hart getroffen.

Zugleich hat die Koalition den Ehepartnern sowie den Kindern von Familienunternehmern die betriebliche Erbschaftsteuer seit dem 1. Januar erlassen, sofern sie die Firma zehn Jahre lang fortführen und für all ihre Beschäftigten zusammen nicht weniger an Löhnen zahlen als die bisherigen Inhaber. Und Ehepartner, die eine selbstgenutzte Immobilie erben und sie zehn weitere Jahre bewohnen, bleiben nun von der Erbschaftsteuer verschont, genauso wie Kinder. Einzige Bedingung: Die Wohnfläche darf nicht größer als 200 Quadratmeter sein und sie müssen zehn Jahre dort ihren Hauptwohnsitz einrichten.

Verschärfte Spaltung

Damit wird die Spaltung der Menschen in Deutschland in Arme und Reiche nicht bloß zementiert, sondern auch weiter verschärft. In kaum einem westlichen Industriestaat ist die Erbschaftsteuer so niedrig und das Aufkommen daraus so gering wie hierzulande. Es beträgt nur vier Milliarden Euro pro Jahr. Auch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit verspricht dieses Steuergeschenk der Koalition keinen Erfolg, denn wieso sollten erbende Söhne und Töchter als Unternehmer fähiger sein als potentielle Käufer oder von diesen beauftragte Manager? Hatten die Neoliberalen nicht stets gepredigt, in der Marktwirtschaft müsse das Leistungsprinzip gelten? Leistung müsse sich wieder lohnen, das war ihre Devise. Ist es jedoch eine Leistung, der Sohn oder die Tochter eines Multimillionärs oder Milliardärs zu sein?

Reichtum mehren statt Armut verringern - so lautet offenbar das heimliche Programm der Koalition. Ein Regierungsbündnis der großen "Volksparteien" mag ja nach seiner ganzen Konstruktion, nach der unterschiedlichen programmatischen Tradition aller Beteiligten den Eindruck vermitteln: Hier sind sämtliche Bevölkerungsschichten mit ihren spezifischen Interessen angemessen repräsentiert. Tatsächlich aber machen CDU, CSU und SPD eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Und wer nur wenig hat, dem wird auch das noch genommen.

Es ist so, dass die Hasardeure und Spekulanten, die vor allen anderen den Menschen die Suppe eingebrockt haben, durch den staatlichen Bankenrettungsfonds aufgefangen werden. Hingegen dürften die Mittelschicht, Arbeitslose und Arme diese Suppe auslöffeln. Wenn die privaten Banken den für sie bürgenden Staat zur Kasse bitten und die Firmenerben diesen Staat immer weniger mitfinanzieren, wird für die sozial Benachteiligten und die wirklich Bedürftigen kaum noch Geld übrigbleiben. Zusammen mit der neu im Grundgesetz verankerten "Schuldenbremse" führen Bürgschaften und Kredite in Milliardenhöhe zu überstrapazierten Haushalten, wodurch sich "Sparmaßnahmen" aller Art künftig natürlich leichter als sonst rechtfertigen lassen.

Geringe Lobby

Aufgrund der sich abzeichnenden härteren Verteilungskämpfe um die knappen Finanzmittel des Staates dürfte das soziale Klima in nächster Zeit erheblich rauer werden. Die neue Bundesregierung wird - unabhängig davon, welche Parteien sie bilden - höchstwahrscheinlich der Versuchung erliegen, Kürzungen bei Sozialleistungen vorzunehmen, wo die Lobbymacht der Betroffenen gering ist und noch genug Haushaltsmittel zur Disposition stehen. Wenn nicht alles täuscht, stehen wir am Vorabend einer "Agenda 2020", die durch einen weiteren Um- beziehungsweise Abbau des Sozial(versicherungs)staates diesen womöglich in einen bloßen Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat verwandelt. Die Unterstützung des Staates wird sich noch stärker auf die "wirklich Bedürftigen" konzentrieren, auf die Gewährleistung des Existenzminimums beschränken und auf eine "Gegenleistung" ihrer Nutznießer dringen. Dass sich der Sozialstaat darauf beschränkt, das Verhungern seiner Bürger/innen zu verhindern, dürfte allerdings weder im Sinne des Grundgesetzes sein, noch ist es in einer so wohlhabenden Gesellschaft wie der unsrigen ethisch zu verantworten.

Um die Kluft zwischen Arm und Reich zumindest ansatzweise zu schließen, wäre es nötig, die Konjunktur durch eine Stärkung der Massenkaufkraft anzukurbeln. Die bisherigen Konjunkturpakete verzichten weitgehend darauf. Vor allem müsste die Kaufkraft der untersten Einkommensgruppen gestärkt werden. Dies wäre nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch sinnvoll: Diese Menschen werden das Geld auch tatsächlich wieder ausgeben, sie können es sich gar nicht leisten zu sparen. Es ist sowieso an der Zeit, die Hartz-IV-Sätze anzuheben, um die Inflation der vergangenen Jahre auszugleichen. Erforderlich wäre, den Betrag von 351 auf 450 Euro pro Person und den Kindersatz, der derzeit - je nach Alter - zwischen 215 und 287 Euro beträgt, um mindestens 100 Euro anzuheben. Und schließlich brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn von neun Euro pro Stunde. Zu viel? In Frankreich muss genau dieser Betrag gezahlt werden.

Christoph Butterwegge, geboren 1951, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.

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