Erfolgsrezept Coffee-to-go:Die Frappuccino-Queen

Vanessa Kullmann erfand "Balzac Coffee" - und wurde mit 31 Jahren zur "Unternehmerin des Jahres". Mit erstaunlicher, teils irritierender Resistenz gegen Ratschläge und Grundregeln.

Gabriela Herpell

Manche Leute erinnern sich noch daran, dass es mal als unmanierlich galt, auf der Straße zu essen und zu trinken. Heute sieht das anders aus: Menschen, die häufig jung sind oder so aussehen möchten, eilen durch die Straßen, mit der einen Hand halten sie ein Telefon ans Ohr, in der anderen, noch freien Hand: einen Pappbecher.

Vanessa Kullmann erfand "Balzac Coffee" - und wurde mit 31 Jahren zur "Unternehmerin des Jahres".

Vanessa Kullmann im Ambiente von Balzac Coffee mit Lieblingsdrink: der Hazelnut-Latte aus eigener Röstung.

(Foto: Foto: Balzac)

Darin schwappt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Milchkaffeegetränk, tall, grande, large oder so ähnlich. Es ist übrigens gar nicht einfach, die passende Portion zu bestellen, wenn alle Angaben Größe suggerieren. Wer könnte sagen, welcher Becher mehr Kaffee enthält: tall, large oder grande? Aber das ist eine andere Geschichte.

Geschirr? Spülmaschine? Pappe!

Diese hier handelt von einer Frau, die einen großen Anteil daran hat, dass heute auf deutschen Straßen im Vorbeigehen Kaffee getrunken wird. Das kann man finden, wie man will, fest steht, dass Vanessa Kullmann eine Pionierin der Coffee-to-go-Bewegung ist.

Im Jahr 1998 eröffnete sie in den ehrwürdigen Hamburger Colonnaden ihren ersten von mittlerweile 30 Coffee Shops. Sie nannte den Laden Balzac Coffee, in Anlehnung daran, dass der französische Schriftsteller Honoré de Balzac seine Werke mit Hilfe der Wirkung starken, schwarzen Kaffees verfasst haben soll.

Natürlich hat Kullmann sich seitdem oft anhören müssen, dass sie doch gar keine französische Lebensart, sondern bloß eine weitere amerikanische Unsitte nach Deutschland gebracht hätte. "Es gibt viele Leute, die Coffee to go grundsätzlich ablehnen, auch wegen der ganzen englischen Bezeichnungen", sagt sie. Und? Hat sie das verunsichert, ganz am Anfang vielleicht?

"Nein. Ich war so überzeugt von der Idee, Kaffee zum Mitnehmen zu verkaufen, dass ich am Eröffnungstag in meinem ersten Laden nur Pappbecher hatte. Ich habe gar nicht daran gedacht, Geschirr zu besorgen. Oder eine Spülmaschine."

Perfekte Erscheinung

Sie hatte nicht bedacht, dass man es sich in Deutschland zu dieser Zeit mit seinem Kaffee noch gemütlich machte. Ganz im Gegensatz zum eiligen New York, wo die Hamburgerin zuvor ein paar Monate verbracht hatte. Weil sie nicht so recht gewusst hatte, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Dort wurde dann - auch weil sie "in New York alles toll fand" - die Idee vom eigenen Coffee Shop geboren.

Vanessa Kullmann ist groß, schmal, brünett. Ihr Haar ist zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie spricht gepflegtes Hochdeutsch mit nur sehr vereinzelten englischen Ausdrücken darin, ihre Fingernägel sind kurz geschnitten und mit Klarlack bepinselt, ihre dunklen Augenbrauen sehr sauber, sehr schmal gezupft.

Vor ihr steht ein Pappbecher, darin befindet sich ein Kaffee der Geschmacksrichtung Hazelnut Latte, ihre Lieblingssorte. Wenn man sie fragt, wie es war, voriges Jahr - mit gerade 31 - zur Unternehmerin des Jahres gewählt zu werden, antwortet sie: "Komisch." Man glaubt ihr das sogar. Wenn nicht alles trügt, tut sie nicht einfach bescheiden (und ist in mancher anderer Hinsicht vielleicht auch gar nicht bescheiden). Aber sie wirkt eben auch nicht wie jemand, der heimlich scharf darauf ist, im Rampenlicht zu stehen.

Im zweiten Teil: Vanessa Kullmann auf der Suche nach dem perfekten Cafè - oder Coffee?

Die Frappuccino-Queen

In diesen Tagen erscheint trotzdem ein Buch von ihr. "Keine große Sache" heißt es hanseatisch untertrieben, und darin beschreibt sie, wie sie ihren (amerikanischen) Traum vom eigenen Coffee Shop verwirklichte - und dabei zur Unternehmerin wurde.

Zum Glück ist das Buch nur zu einem ganz kleinen Teil ein Leitfaden zur Selbständigkeit. Der größere befasst sich mit den Anfängen, und das liest man einfach gern: Vanessa Kullmann in New York, wie sie als Praktikantin und später Assistentin morgens Kaffee für ihre Vorgesetzten holt: Triple Grande Latte, Tall Cappuccino, Grande Skim Latte, Grande Hazelnut Latte.

Wie stolz sie ist, irgendwann diese Bestellung ohne Fehler herunterzuschnurren wie ein Profi-Kaffeeholer. Wie begeistert sie von der Atmosphäre im Coffee Shop ist, von den Scherzen des Teams hinterm Tresen, von der Unkompliziertheit eines solchen Gastronomiebetriebs, in dem sie keine sozialen Unterschiede ausmachen kann.

Niemand gibt einem das Gefühl, es wäre besser, den Platz schnell zu räumen, wie es in New York sonst üblich ist. Nicht einmal den Obdachlosen sagt man: "Das ist kein Bahnhof hier." Stattdessen können sie sich ein Glas Wasser nehmen.

Die Nächte im Keller der Eltern

Morgen für Morgen, wenn sie die Kaffees holt, studiert sie den Ablauf im Coffee Shop, und Morgen für Morgen wird der Wunsch größer, es mit einem eigenen Geschäft in Deutschland zu probieren. Sie fährt nach Seattle, in die Geburtsstadt der Coffee Shops und von "Starbucks", auf ein dreitägiges Kaffee-Seminar. 500 Dollar kostet der Trip, es ist die erste Investition, die Vanessa Kullmann in ihre zukünftige Firma steckt.

Zurück in Hamburg mietet sie eine ehemalige Apotheke in den Colonnaden an, lässt nächtelang im Keller ihrer Eltern Espresso durch ihre neue, teure Maschine laufen, hat vom vielen Testen eine schwarze Zunge und schläft nicht (auch aufgrund der etlichen probierten Kaffees), bis sie mit dem Ergebnis zufrieden ist: "Espresso muss wie Sirup laufen und wie Honig aussehen."

Die Crema, die cremige Haube auf dem schwarzen Espresso, muss einen einheitlichen Karamellton haben, ohne helle Flecken oder dunkelbraune Stellen, und der Zucker muss einige Sekunden darauf liegen bleiben. So ein Espresso schmeckt dann auch ohne Zucker, denn er ist nicht bitter.

Durchs endlose Probieren im Keller ihrer Eltern ist Vanessa Kullmann zur Kaffee-Fetischistin geworden. Vielen Dingen gegenüber kann sie nachsichtig sein, schlechter Milchkaffee aber macht sie krank. Zu Hause, wo sie keine große Maschine hat, trinkt sie deshalb deutschen Bohnenkaffee. Eine italienische Espresso-Kanne käme ihr nicht auf den Herd, der Kaffee daraus taugt für sie nicht als Basis für einen anständigen Milchkaffee.

Schwarze Zunge, kein Schlaf

Die Milch dafür, auch das hat sie in den nächtlichen Stunden im Keller gelernt, darf nicht zu stark erhitzt werden, denn dann verbrennt der Milchzucker und die Milch verliert ihre Süße. Und zu heftige Bewegungen des Gefäßes am Dampfhahn bringen nur Blasen, die zerplatzen, und nicht die sahnige Konsistenz, die dafür sorgt, dass man den Milchschaum so schön löffeln kann - übrigens eine rein deutsche Angewohnheit. "In New York gibt es nur Holzstäbchen zum Umrühren, kein Mensch löffelt dort den Milchschaum vom Kaffee herunter." Wieder die Eile, wahrscheinlich.

Die fünf Kellner, die am ersten Tag in Vanessa Kullmanns Balzac-Shop arbeiten, sind alle durch die unerbittliche Kaffee-Herstellungs-Schule der Chefin gegangen: schwarze Zunge, kein Schlaf. Denn Kullmann will nicht weniger als den besten Kaffee der Stadt und den besten Milchschaum der Stadt servieren. Weitere Vorhaben: Immer gut gelaunt sollen die Kellner sein. Vor allem aber einfühlsam: Sie sollen merken, welcher Gast sprechen möchte und welcher nicht; welcher Gast hören möchte: "Wie immer?" Und welcher Gast nie wieder kommen würde, wenn er hören würde: "Wie immer?"

Im dritten Teil: Der Test-Besuch bei Balzac.

Die Frappuccino-Queen

Besuch also bei Balzac. Erstens: Die Bedienungen sind tatsächlich gut gelaunt. Zweitens: Sie merken, wer nicht sprechen möchte. Drittens: Der Kaffee ist gut, der Schaum dagegen eher mittelmäßig. Viertens, und das ist vielleicht der irritierende Trick von Balzac: Der Laden ist eingerichtet wie Kraut und Rüben.

Ganz anders als die streng durchkonzipierten Shops der San Francisco Coffee Company (hellblau und braun) oder von Starbucks (grün und schwarz) trifft bei Balzac ein Mix von Materialien und Farben aufeinander, das man auf den ersten Blick als willkürlich empfinden könnte. Das aber angenehm unamerikanisch wirkt. Oder anders gesagt: angenehm europäisch zusammengewürfelt.

One-Woman-Show

Dieser Mix ist das Konzept von Vanessa Kullmann, gegen den Rat jeglicher Fachleute. Schon vor Eröffnung des ersten Ladens entschied sie sich gegen den Rat eines Graphikers, beim Logo nur eine Schrifttype zu verwenden - und benutzte zwei, in Kombination mit einem barocken Engel auf einem Motorrad. Gewagt.

Bei der Inneneinrichtung zeigt sie sich ähnlich beratungsresistent: mindestens drei Materialien - Linoleum, Fliesen, Stein - will sie auf dem Fußboden sehen, mittlerweile hat sich noch Holz dazugesellt. Die Arbeitsplatte auf dem Tresen ist olivgrün, die Wände sind orange, gelb, beige, die Arbeitskleidung schreibt ein beige-braunes Hemd und eine dunkelblaue Schürze vor. Blue Jeans oder rote Hosen sind unerwünscht, das würde dann doch den Rahmen sprengen.

Zur Sicherheit geht man noch in eine andere Filiale. Gelb-orange die Wände, olivfarben der Tresen, Stein, Linoleum, Holz auf dem Boden, die Bedienung gut gelaunt, der Kaffee okay, der Schaum mittel. Und so weiter. Der erste Eindruck wird also bestätigt. Natürlich könnte man nun sagen, dass eine Coffee-to-go-Kette heutzutage keine Kunst ist. Man könnte auch sagen, dass zurzeit so viel Platz für Coffee-to-Go-Shops in Deutschland ist wie für Fernsehzeitschriften.

Aber dazu muss man auch sagen, dass eine einzige, noch dazu sehr junge, weibliche und ein bisschen sture Person an der Spitze eines solchen Unternehmens nicht alltäglich ist. Dass eine sanfte, aber bestimmte Einzelkämpferin, die das alles beharrlich nach ihren eigenen Vorstellungen aufzieht, eine "One-Woman-Show" also, eben doch eine Seltenheit ist.

Meetings oder Milchaufschäumen?

Darum noch ein schneller Abriss der weiteren Geschichte: Der erste Tag an den Hamburger Colonnaden ist ein mittelmäßiger Erfolg, vor allem finanziell betrachtet. Viele Gäste, nicht allzu viel Umsatz. Es muss dann doch erst einmal Geschirr her.

Doch Vanessa Kullmann hat in New York genau beobachtet, was Durchhaltevermögen heißt und was vor allem Service. Stündlich wird am Konzept gefeilt. Dann kommt ein weiterer Shop dazu, dann noch einer, schließlich ein General Manager. Vanessa Kullmann übergibt die Geschäfte an ihn, kehrt 1999 nach New York zurück und studiert Restaurantmanagement.

Im Sommer 2000 der große Dämpfer: Das Unternehmen, das sie profitabel übergeben hat, ist im Minus. Acht Läden existieren mittlerweile in ganz Deutschland, die Expansion ist viel zu schnell gegangen, der General Manager wirft hin. Kullmann setzt die im amerikanischen Studium gelernten Lektionen sofort um, gibt Verantwortung an ihre Mitarbeiter ab - "ein schwieriger Prozess, man denkt ja zuerst sogar, keiner kann den Kaffee so machen wie du" - und motiviert sie dadurch. Sie lernt: "Man darf nur strukturiert wachsen."

Heute führt sie das Unternehmen mit seinen mittlerweile 410 Mitarbeitern vom Schreibtisch aus. Meetings statt Milchaufschäumen. Und nachdem sie in den ersten Jahren zu Geschäftsterminen noch ein Kostüm anzog, erlaubt sie sich heute entspannt Jeans und Pullover.

Ihr Buch ist ihrem Lebensgefährten Jameel Khaja gewidmet, "der mich in allem immer ermuntert hat". Sie sind ein Paar, seit sie 1997 als Mädchen auch für ihn den Kaffee fürs Büro holte. Jameel lebt immer noch in New York, sie in Hamburg. Von Balzac zu Starbucks ist es ganz schön weit. Eine Herausforderung? "Wenn's passt." Auch mal eine Antwort.

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