Gleichgewicht:Die Wasserwaage im Kopf

Dass wir nicht umfallen, verdanken wir einem ausgeklügelten System von Sensoren.

Von Martin Urban

Ein Grundprinzip des menschlichen Lebens ist, dass es auf ein Gleichgewicht zielt. Unser Körper versucht bei jeder Schieflage gegenzusteuern. Dafür sorgt ein fein abgestimmtes System von Rückkopplungen.

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(Foto: Foto: AP)

Obwohl der Mensch darauf programmiert ist, im Gleichgewicht zu leben, hat er nicht den Gleichgewichtssinn. Um ein Gleichgewicht zu erreichen, müssen vielmehr im Kopf die Informationen verschiedener Sinnesorgane zusammenkommen und verarbeitet werden.

Daraus entsteht dann das Gefühl für den eigenen Körper. Wenn dagegen ein Mensch extrem reizarm lebt, zum Beispiel wenn er auf einer weichen Matratze liegt, kann er bereits nach 30 Minuten über Störungen der Körperwahrnehmung berichten: von sich lösenden Händen und Beinen, von breiigem Körpergefühl.

Meditierende berichten ebenfalls von der Erfahrung, das Gefühl für die Begrenztheit des eigenen Körpers zu verlieren. Andrew Newberg, Radiologe an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia, hat das Gehirn von Menschen beobachtet, die nach der Lehre des tibetanischen Buddhismus meditierten.

Rezeptoren und Lymphflüssigkeit

In dem Moment, wo "die Grenzen zerfließen", war ein bestimmtes Gehirnareal wenig durchblutet, also nicht aktiviert. Diese Region macht dem Menschen im aktivierten Zustand klar, wo der Körper seine Grenzen hat und die Außenwelt beginnt.

Die meisten Menschen wissen wohl, dass der Gleichgewichtssinn etwas mit dem Innenohr zu tun hat und bei Störungen in diesem Organ auch gestört sein kann. Wir verfügen über eine Art Wasserwaage, die sich nach der Schwerkraft ausrichtet, den so genannten Vestibularapparat, drei mit Lymph-Flüssigkeit gefüllte Bogengänge in jedem Ohr.

Er ermöglicht uns, gerade zu stehen und zu gehen, ohne zu schwanken. Etwas anderes ist es, auch bei geschlossenen Augen die Stellung der eigenen Gliedmaßen zueinander genau wahrnehmen zu können - was übrigens auch in der Schwerelosigkeit möglich ist. Die dazu erforderlichen Rezeptoren finden sich in den Gelenken.

Der Gleichgewichtssinn ist eingebunden in ein Bewertungssystem aller Sinne. Dieses entscheidet bereits im Vorfeld, welche Information im Zweifelsfall höher zu bewerten ist, sodass widersprüchliche Signale gar nicht erst höheren Orts im Gehirn ankommen.

Sehen vor fühlen

Wenn man zum Beispiel in einem Zug sitzt, der im Bahnhof steht, und der Nachbarzug langsam losfährt, ist man sich nicht immer gleich sicher, welcher der beiden Züge nun fährt. Zunächst gelten die visuellen Informationen als maßgeblich, die besagen, dass der Zug rollt, in dem man sitzt - auch wenn die Gleichgewichtssensoren, die Berührungs- und Spannungsmelder in Haut und Muskeln davon nichts wahrnehmen.

Doch wenn wir dann stutzen und die niederen Organe zu Wort kommen lassen, bemerken wir schlagartig, dass nicht unser Zug sondern der Nachbarzug fährt. Untersuchungen am Münchner Universitätsklinikum Großhadern haben ergeben, dass eine Stimulation des Gleichgewichtsapparates mit einer Hemmung jener Zentren im Gehirn einhergeht, welche andere Sinneseindrücke verarbeiten.

Auf dem Kopf stehend und in der Kurve

Aus dem Gleichgewicht geraten wir allerdings in einer Situation, die der Mensch im Laufe seiner Evolution nun wahrlich nicht üben konnte: Wenn die Gleichgewichtssensoren uns melden, dass wir im Auto auf einer kurvenreichen Straße fahren, das Auge aber davon nichts erfährt, weil es ruhig von Zeile zu Zeile eines Buchs gleitet - dann kann einem nur noch übel werden.

Dagegen macht es nichts aus, wenn das Auge zeigt, dass die Welt auf dem Kopf steht, das Gehirn es aber besser weiß. Der Psychologe Georg Stratton hat das 1897, wenige Jahre, nachdem man überhaupt erst das menschliche Gleichgewichtssystem wissenschaftlich zu untersuchen begonnen hatte, in einem Selbstversuch festgestellt.

Stratton setzte sich eine Brille auf, die den Raum auf den Kopf stellte und von rechts nach links drehte. Zunächst war er natürlich völlig desorientiert. Doch bereits nach einer Woche hatte er sich daran gewöhnt. Er war sich kaum mehr dessen bewusst, dass sein eigener Kopf das, was die Augen sahen, erst umbauen musste, um die Welt richtig wahrzunehmen.

Gymnastik hilft

Wie alle Begabungen ist auch die Fähigkeit, im Gleichgewicht zu sein, unterschiedlich gut entwickelt. Gymnastik kann helfen, diese Fähigkeit zu erhalten. Dabei kann man den Vorteil nutzen, dass es nicht einen Gleichgewichtssinn gibt, sondern ein System, dessen Komponenten sich gegenseitig unterstützen können.

Ein kleines Experiment soll das belegen: Man stelle den linken Fuß genau vor den rechten und versuche, in einen stabilen Zustand zu kommen. Wenn das gelungen ist, schließe man die Augen. Im Allgemeinen wird man, insbesondere wenn man älter ist, den Zustand nicht lange aushalten können. Wenn man nun eine Wand mit dem Finger ganz leicht berührt, selbst ohne sich dabei abzustützen, wird man den Gleichgewichtszustand länger halten.

"Beobachtungen dieser Art weisen auf eine komplexe Verschränkung hin, die für das Gleichgewicht zwischen der Lageorientierung, der Tast- und Körperwahrnehmung sowie der Motorik besteht", schreibt E. Bruce Goldstein dazu im Spektrum Lehrbuch Wahrnehmungspsychologie.

Unbemerkte Schieflage

Nun gibt es die verschiedensten Störungen des Systems. Es gibt Menschen, bei denen funktioniert die Eigenwahrnehmung, die Propriozeption, nicht mehr. Sie bemerken zum Beispiel nicht, wenn ihr Körper in erhebliche Schieflage gerät. Der amerikanische Neuropsychologe Oliver Sacks erzählt in seinem Buch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, dass der Mensch selbst dieser Situation nicht hilflos ausgeliefert bleiben muss - gerade weil das Gleichgewichtssystem viele Komponenten hat.

Sacks hatte also einen solchen Patienten, 93 Jahre alt, bärenstark, aber die Parkinsonsche Krankheit hatte ihn die Fähigkeit verlieren lassen, seine Lage im Raum wahrzunehmen. Und so lief er als Schiefer Turm von Pisa herum. Er selbst spürte allerdings nichts davon. Videoaufnahmen mussten ihn von seiner Schräglage überzeugen.

Mr. MacGregor, so nennt ihn Sacks, war einst ein Tischler, der gelernt hatte, mit der Wasserwaage umzugehen. Er hatte nun eine geniale Idee, wie er sich selber helfen könnte. Gewissermaßen mit einer Wasserwaage vor den Augen.

Die Techniker in der Klinik von Sacks konstruierten eine Art von künstlichem Horizont, zwei Nasenlängen vor den Gläsern der Brille des Patienten - "kaum seltsamer und klobiger (...) als die plumpen Hörgerät-Brillen, die damals gerade aufkamen." Nach einigen Wochen der Gewöhnung konnte Mr. MacGregor tatsächlich ohne allzu große Anstrengung wieder gerade gehen.

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