Krieg in Russland:Napoleons Lausbuben

Es waren nicht allein die kalten Temperaturen, die den Soldaten des französischen Feldherrn zu schaffen machten - sondern auch die Krankheiten, die durch Läuse übertragen werden.

Johannes Willms

Es war nicht so sehr die unerbittliche Kälte des russischen Winters, wie eine hartnäckige Legende behauptet, die vielen zehntausenden Angehörigen der Napoleonischen Armee 1812 auf ihrem Rückzug von Moskau das Leben kostete, sondern vor allem auch kleine Parasiten: Läuse.

Krieg in Russland: Skelett im Massengrab bei Vilnius

Skelett im Massengrab bei Vilnius

(Foto: Foto: afp)

Diese Feststellung ist das Ergebnis einer Untersuchung, die jetzt im Journal of Infectious Diseases veröffentlicht wurde. Ein Forscherteam des Nationalen Französischen Forschungszentrums hatte Zähne und Uniformreste von Hunderten Soldaten der Grande Armée, die auf dem Rückzug gestorben und in einem Massengrab nahe der litauischen Hauptstadt Vilnius im Dezember 1812 verscharrt worden waren, exhumiert und auf ihre Todesursache hin untersucht.

Regellose Flucht

Der Untersuchung zufolge erlagen rund 30 Prozent der toten Soldaten Infektionskrankheiten wie Typhus und Fleckfieber, die von Läusen übertragen werden. Dieser Rückzug glich einer regellosen Flucht und forderte wesentlich mehr Opfer als im Kampf ihr Leben ließen. Angesichts der zahlreichen Augenzeugenberichte, die detailliert diese Schrecknisse schildern, kann dieses Ergebnis nicht überraschen.

Den wenigen tausend, die den Rückzug überlebten - die Mannschaftsstärke der noch in geschlossenen Einheiten von Wilna am 10. Dezember 1812 nach Westen abrückenden napoleonischen Soldaten belief sich auf rund 4000 Mann - galt die Stadt als das "Leichenhaus der Grande Armée".

Diese 4000 Soldaten waren der mehr als klägliche Rest jener Streitmacht, mit der Napoleon am 24. Juni 1812 um Mitternacht auf drei Pontonbrücken die Memel überquert hatte und nach Russland eingefallen war und die nach ihrer schieren Größe alles seit Menschengedenken an Kriegsvolk übertraf: Verstärkungen eingerechnet, die im Laufe des Feldzugs hinzustießen, waren es 611.700 Mann, die 1372 Kanonen aller Kaliber mit sich führten.

Der Größe dieses Aufgebots entsprach die Dimension der Katastrophe, die zu begrenzen es zum einen an der Logistik zur Versorgung eines derart gewaltigen Heerbanns mangelte.

Zum anderen unterschied sich die Medizin zu damaliger Zeit kaum von Quacksalberei. Hygiene war weitgehend unbekannt. Betäubungsmittel, Seren und andere pharmazeutische Errungenschaften gab es noch nicht.

Verwundeten mussten zerschmetterte Gliedmaßen bei vollem Bewusstsein amputiert werden. Wer diese entsetzlichen Torturen überlebte, wurde häufig binnen weniger Tage ein Opfer des Wundstarrkrampfs.

Weitaus größer dürfte aber noch die Zahl derjenigen gewesen sein, die von zahlreichen Seuchen hinweggerafft wurden, die in den in Klöstern, Kirchen und anderen großen Gebäuden provisorisch eingerichteten Lazaretten endemisch waren. Die selben, von Ungeziefer und Bakterien verseuchten Strohschütten, auf denen soeben andere an Typhus gestorben waren, dienten den neu eintreffenden Verwundeten als Lager.

Lästige Verwundete

Die Zahl wie die erschütternde Anschaulichkeit zeitgenössischer Schilderungen dieser Schrecken nimmt bezeichnenderweise in dem Maße zu, wie immer größere Heere in den Schlachten der napoleonischen Zeit aufeinander trafen.

Napoleon ficht dies aber nie an, wie seine verhältnismäßig wenigen, das Lazarettwesen betreffenden Anweisungen zeigen. Verwundete galten ihm lediglich als zwar lästige, aber unvermeidbare Folge des Krieges. Allein aus Rücksicht auf die Moral der Truppe wie seines Ansehens wegen musste er aber dennoch so tun, als kümmere es ihn.

Das war der tiefere Sinn von Geldgeschenken und anderen Zuwendungen, die er gelegentlich im Kampf verletzten Soldaten zukommen ließ. Für sein einschlägiges Desinteresse bezeichnend ist auch, dass er 1813 den Dramatiker Jean-Baptiste Hapde zum Generaldirektor der Lazarette der Grande Armée ernannte.

In Wilna, das von den Kriegswirren bis zum 9. Dezember 1812 verschont worden war, als die kläglichen, ausgehungerten und von Erfrierungen gezeichneten Reste der Grande Armee hier wie ein Heuschreckenschwarm einfielen und plünderten, blieben beim Abzug der noch Befehlen gehorchenden französischen Soldaten am folgenden Tag rund 20.000 Verwundete, Erschöpfte und Deserteure zurück.

Viele von ihnen dürften in jenem Massengrab verscharrt worden sein, nachdem sie zuvor noch einige Stunden oder auch Tage in einem der zahlreichen und längst hoffnungslos überfüllten Lazaretten der Stadt mit dem ihnen sicheren Tod gerungen haben. Ein Augenzeuge, der französische General, Graf Segur, hat diese Schreckensorte als "verseuchte Leichenhäuser" beschrieben, in deren "Höfen, Korridoren, ja selbst den Krankensälen die Leichen übereinander gestapelt lagen".

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