Sexuelle Gewalt: Runder Tisch:Im Fegefeuer der Wahrheit

Von der Schweigespirale zur Redespirale: Was der runde Tisch gegen sexuelle Gewalt bewirken kann - und warum er umbenannt werden muss, bevor er mit der Arbeit beginnen kann.

Heribert Prantl

"Sexueller Missbrauch" ist ein falsches Wort. Es gehört aus dem aktuellen Vokabular und aus der Diskussion gestrichen. Das Wort vom "sexuellen Missbrauch" von Kindern und Jugendlichen verunklart und versteckt die Wahrheit.

Missbrauch, Demonstration, ehemalige Heimkinder, ddp

Ehemalige Heimkinder demonstrieren am 15. April 2010 vor dem Brandenburger Tor in Berlin gegen sexuelle Gewalt gegenüber Kindern.

(Foto: Foto: ddp)

Es ist ein Wort aus der Zeit der Schweigekartelle, aus der Zeit, in der sexuelle Übergriffe an Kindern verharmlost, verschwiegen oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurden.

Dieses Wort sexueller "Missbrauch" tut so, als gäbe es auch einen durchaus tolerablen sexuellen "Gebrauch" von Minderjährigen. Es gibt ihn nicht. Der sexuelle Missbrauch in Erziehungs- und Abhängigkeitsverhältnissen ist sexuelle Gewalt.

Umbenennung notwendig

Das Wort "Missbrauch" gebiert so absurde Bezeichnungen wie "Missbrauchsbeauftragte". Die frühere Ministerin Christine Bergmann wird allen Ernstes so bezeichnet. Das eigentliche Thema am runden Tisch der Bundesregierung ist aber nicht Missbrauch von Sexualität, sondern sexuelle Gewalt - in Internaten, Sportvereinen, Familien; die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat zu Recht darauf hingewiesen.

Es ist an diesem runden Tisch darüber zu reden, wie sexuelle Gewalt durch Lehrer, Erzieher, Sporttrainer oder Geistliche zu verhindern ist. Zu reden ist über Vertrauenspersonen, die das in sie gesetzte Vertrauen missbrauchen, um sexuelle Gewalt auszuüben. Am Beginn der Arbeit dieses runden Tisches hat also seine Umbenennung zu stehen - sonst beginnt die "Aufarbeitung" nicht nur mit einem Sprach-, sondern auch mit einem Denkfehler.

Der runde Tisch ist ein Ort, von dem Aufklärung ausgehen muss. Er ist natürlich kein Ermittlungsorgan, keine Ersatz-Staatsanwaltschaft für verjährte Straftaten, keine Opferberatungsstelle und keine Instanz zur Aufhebung der Unschuldsvermutung. Er soll eine Instanz sein, die sowohl die öffentliche Diskussion als auch den Gesetzgeber sachverständig begleitet. Das ist ein längeres Projekt.

Es gibt aber gleichwohl Maßnahmen der ersten Hilfe, die dieser runde Tisch bewerkstelligen muss: Er hat dafür zu sorgen, dass schon bestehende private Beratungsstellen für Opfer sexueller Gewalt so ausgebaut und Selbsthilfegruppen (wie "Tauwetter" für Männer und "Wildwasser" für Frauen) finanziell und personell so gestärkt werden, dass sie das Leid, das sich nun endlich im Reden Bahn bricht, bewältigen können.

Aus der Schweigespirale ist eine Redespirale geworden; darüber mäkeln kann nur, wer die Not der Opfer nicht kennt. Seitdem der mutige Pater Klaus Mertes als Rektor des Berliner Canisiuskollegs im Januar in einem Brief an 600 ehemalige Schüler die jahrelangen sexuellen Übergriffe durch Lehrkräfte an seiner Schule öffentlich gemacht hat, haben Opfer im ganzen Land den Mut zum Reden gefunden.

Reden als Mittel gegen Gewalt

Die Erschütterung, die Mertes zu seinem Schritt getrieben hat, sie hat die Mauern der Odenwaldschule ebenso zum Einsturz gebracht wie die von Kloster Ettal. Die Schweigespirale wurde umgedreht - und angesichts der vielen Jahrzehnte, die geschwiegen worden war, kann man nun nach den wenigen Monaten des Erkennens und Bekennens gewiss nicht sagen, dass nun schon zu viel geredet wird. Dieses Reden ist das beste Mittel gegen sexuelle Gewalt.

Der runde Tisch kann dieses Reden organisieren. Deshalb müssen die Opfer mit an den Tisch: Man muss mit ihnen reden, nicht über sie. Nur so ist zu ergründen, welche Strukturen Erzieher zu Sexualverbrechern machen. Der runde Tisch kann nicht die individuelle Wahrheit im Einzelfall ermitteln.

Auch eine Verlängerung von Verjährungsfristen wird dieser Wahrheit im Einzelfall nicht auf die Spur helfen - weil im Abstand von immer mehr Jahren die Beweise immer dürftiger werden. Das ist ein Problem auch für eventuelle Enschädigungsfonds. Der Erfolg des runden Tisches bemisst sich freilich nicht an der Höhe eines solchen Fonds. Er bemisst sich daran, ob es gelingt, ein Purgatorium zu organisieren.

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