Im Kino: Das Summen der Insekten:Monolog einer Mumie

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Regenwasser sammeln, Radio hören, der letzte Stuhlgang, alle Details werden nüchtern notiert: Ein Dokumentarfilm erzählt vom Tod - aus der Perspektive des Verstorbenen.

M. Knoben

Unglaublich, dass dieser Film im vergangenen Jahr den Europäischen Filmpreis gewonnen hat. Als Dokumentarfilm! Das Summen der Insekten erzählt davon, wie man stirbt, aus der Perspektive des Gestorbenen, der Selbstmord durch Verhungern begangen hat. Damit bewegt sich der Film fast ausschließlich in Regionen, die sich der diskreten Beobachtung und dem analytischen Nacherzählen, wie sie jahrzehntelang die Gattung geprägt haben, vollkommen entziehen.

"Mir tut es überall so weh, als ob das Fleisch von innen her abgeschabt würde":Das Summen der Insektenist die Geschichte vom Selbstmord eines Mannes. (Foto: Foto: Peter Liechti Filmproduktion)

Es ist kein friedliches Einschlafen, das hier begleitet wird, sondern ein gewaltsames Sich-Herausreißen aus dem Leben. "Mir tut es überall so weh, als ob das Fleisch von innen her abgeschabt würde", hat der Verhungernde in das Tagebuch geschrieben, in dem er sein Selbstvernichtungsexperiment dokumentiert.

Ohrenbetäubendes Summen

Es bildet die Grundlage von Peter Liechtis Filmessay, ist allerdings selbst eine Fiktion. Der Japaner Shimada Masahiko hatte auf der Basis einer wahren Begebenheit seinen Text "Miira ni nanu made" (Bis ich zur Mumie werde) verfasst, auf den der Film beruht.

Der Monolog der Mumie betört durch seine Sachlichkeit: Regenwasser sammeln, Radio hören, der letzte Stuhlgang, alle Details dieses Sterbens werden nüchtern notiert. Nun haben wir uns längst daran gewöhnt, dass Menschen ihr Innerstes nach außen kehren, auf Facebook oder in Nachmittagstalkshows. Der Tod ist eines der wenigen verbliebenen Tabus, an denen Film und bildende Kunst seit einiger Zeit immer wieder rütteln. Voyeuristisch wie viele dieser Arbeiten ist Das Summen der Insekten jedoch nie. Der mumifizierte Leichnam, der in einem improvisierten Unterstand gefunden wird, dessen Identität nicht ermittelt werden kann, wird ebenso wenig gezeigt wie die Requisiten dieses Todes. Nicht einmal das Tagebuch ist zu sehen.

Gezeigt wird viel Natur. In einen abgelegenen Landstrich hatte sich der Selbstmörder zurückgezogen, dort mit Ästen und Plastikplanen eine provisorische Hütte errichtet. Der Wald erscheint als Ort des sich immer und immer wieder reproduzierenden Lebens - was plötzlich als zweischneidige Sache erscheint: Das satte Grün und das ohrenbetäubende Summen der Insekten, das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter halten dem Lebensmüden ein obszön überschießendes JA entgegen, das auch den Zuschauer herausfordert. Hat das Leben einen Wert an sich? Welchen, muss der Zuschauer schon selbst formulieren.

Im Unterstand, im Spukhaus

Dass auch der Körper des Lebensmüden sich ans Leben klammert, es mehr als 60 Tage dauern wird, bis er stirbt, macht seinen Selbstmord umso qualvoller. Ein Blitzkrieg findet statt, in den Eingeweiden des Hungernden und in der Natur, wo heftige Gewitter niedergehen. Der Hungernde phantasiert, auch von Frauen, ein geworfenes Messer fliegt in Zeitlupe durch die Luft, Glühbirnen flackern als nervöser elektronischer Overkill. Später verblassen die Farben, wird die Plane des Unterstands, durch die der Film immer wieder blickt, milchig, zunehmend mit Blättern und Nadeln bedeckt. "Das Plastiktreibhaus ist zum Spukhaus geworden", schreibt der Sterbende auf und hat immer häufiger Halluzinationen. Liechti findet assoziative Bilder, die an die Found-Footage-Aufnahmen aus der Frühzeit des Kinos erinnern, als der Film selbst noch Neuland war, man zu fremden Ufern aufbrach, wie nun eine junge Frau im Ruderboot über den Styx setzt.

Der Ausgang der Geschichte ist bekannt, und doch fiebert man mit dem Hungernden mit. Der Sog, den der Film entwickelt, ist der des Rauschs, in dem das Ich sich auflöst. Damit ist Das Summen der Insekten reinstes Kino. "In der Dunkelheit gibt es kein Subjekt", sagt der Sterbende.

DAS SUMMEN DER INSEKTEN, CH 2009 - Regie: Peter Liechti. Buch: Peter Liechti, Masahiko Shimada. Kamera: Matthias Kälin, P. Liechti. Schnitt: Tania Stöcklin. Film Kino Text, 88 Min.

© SZ vom 12./13.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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