Verschuldete Kommunen:"Defektes System, fehlender Realitätssinn"

Mehr Stadt statt Staat fordert der Kieler Bürgermeister Thorsten Albig. Als ehemaliger Berliner Spitzenbeamter weiß er, wovon er spricht.

Markus Balser

Gut ein Jahr ist es her, dass Torsten Albig (SPD), 46, die Bundespolitik verlassen hat, um in Kiel Oberbürgermeister zu werden. Aus dem engsten Mitarbeiter von Ex-Finanzminister Peer Steinbrück ist im Kieler Rathaus der Kronzeuge der Städte im Kampf gegen den Finanzkollaps geworden. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung rechnet Albig mit der Berliner Politikwelt ab: "Viele in der Hauptstadt haben keine Ahnung, wie es draußen im Land zugeht."

Kiel, Schleswig Holstein, Bundespolitik, Torsten Albig, dpa

Als "echten Qualitätssprung" sieht Torsten Albig (SPD) seinen Wechsel von der Bundes- in die Landespolitik.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Albig, vor einem Jahr noch rechte Hand des Bundesfinanzministers in Berlin, jetzt Herr der Schlaglöcher in Kiel. In der Bundespolitik wird die Arbeit in der Provinz doch traditionell mit Geringschätzung bedacht. Warum tun Sie sich das an?

Albig: Glauben Sie mir: Der Abschied aus Berlin war ein politischer Qualitätssprung. In Berlin ist man im Regierungsviertel eingesperrt und zerbricht sich den Kopf über Strategie und Macht. Es geht vor allem um Symbole und Schattenkämpfe. In Kiel geht es um neue Kindergärten und Bootsstege. Um echte Menschen und Veränderungen. Ich habe den Wechsel keine Minute bereut.

SZ: Sie haben in Kiel eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen. Die Bundespolitik, die Sie jahrelang vertreten haben, kritisieren Sie inzwischen hart und werfen denen in der Hauptstadt vor, sie hätten keine Ahnung, wie es im Land wirklich aussieht. Sie müssen es wissen.

Albig: Ja, leider war das auch bei mir so. Das Regierungsviertel ist ein geschlossenes System, das Sie morgens um acht betreten und abends nicht vor acht hinter sich lassen. Kaum jemand hinterfragt noch, welche Relevanz das eigene Tun für das Land hat. Nehmen Sie die niedrigere Mehrwertsteuer für Hotels. Die Debatte wurde doch geführt, als hinge das Schicksal unseres Landes daran. Dabei ist die Relevanz für Bürger gleich Null.

SZ: Warum fehlt der Realitätssinn?

Albig: Wenn Sie im Hamsterrad drin sind, müssen sie mitlaufen. Sie müssen die Symbole des Systems bedienen. Wer setzt sich durch? Das ist für Parteien und die eigenen Leute sehr wichtig. Machen Sie nicht mit, fallen Sie raus. Zum anderen fehlt oft die Zeit, sich mal zurückzulehnen, über den Marktplatz zu gehen und mit den Menschen zu reden. Auch wir mussten für unseren Minister regelrecht Ausbrüche aus der Politikwelt organisieren. Bis zur Krise. Die überrollte uns komplett. Danach waren wir gefangen in einer Welt aus Konferenzen.

SZ: Wann wurde Ihnen bewusst, wie desolat die Lage der Kommunen ist?

Albig: Schon auf einer meiner ersten Wahlkampftouren in Kiel. In der größten Berufsschule der Stadt mit 6000 Schülern übergab mir ein Schulleiter eine Fotomappe und sagte: "So sieht es wirklich bei uns aus." Ich habe mich geschämt. Zugenagelte Fenster, vernachlässigte Klassenzimmer. Das hätte auch eine Schule in Sarajevo sein können. Das deutsche Gemeinwesen ist über Jahre zu Grunde gegangen. Wenn Schüler unter solchen Bedingungen lernen, ist der Staat am Ende.

SZ: Im ganzen Land steht Städten das Wasser bis zum Hals. Immer mehr Theater, Bibliotheken und Schwimmbäder machen dicht. Warum kriegt selbst eine vergleichsweise gut entwickelte Stadt wie Kiel mit 20.000 Betrieben und Uni den Haushalt nicht in den Griff?

Albig: Mit Sparen allein kann das nicht klappen. Es reicht nicht, einen Haushaltsposten nach dem anderen zu streichen und Gebühren zu erhöhen. Kiel hatte vor drei Jahren Unternehmensberater beauftragt, Sparmöglichkeiten auszuloten. Eine der wichtigsten Empfehlungen: Höhere Sporthallengebühren für Vereine. Mehreinnahmen: Langfristig ein paar Hunderttausend Euro. Kiel hat aber 500 Millionen Euro Kassenkredite und 400 Millionen langfristige Schulden. Wir müssen endlich begreifen, dass nicht Kommunen Schuld sind, weil sie nicht rechnen könnten. Nein, unser Problem ist ein defektes System.

SZ: Kommunen müssen ihre Schulden abbauen, sonst droht vielerorts der Kollaps. Wie soll das klappen?

Albig: Das geht nur, wenn wir das größte Problem der Städte angehen: Die Sozialausgaben. In Kiel zahlen wir in einem einzigen Viertel mit 30.000 Einwohnern jedes Jahr 100 Millionen Euro für Langzeitarbeitslose und Sozialfälle. Und schon jetzt ist klar: Wegen der strukturellen Bildungsarmut wird das auch in der nächsten Generation so bleiben. Hier müssen wir ansetzen.

SZ: Was wollen Sie ändern?

Albig: Eine Stadt wie Kiel erlaubt es sich, zehn Prozent der Schulabgänger ohne Schulabschluss ins Leben zu schicken. Menschen, die wir in den nächsten Jahren viele Male in teure Um- oder Weiterschulung schicken werden - wohl ohne Erfolg. Warum lassen wir das zu, obwohl wir wissen, dass wir allein für diese jungen Menschen in den nächsten vier Jahrzehnten Jahrgang für Jahrgang jeweils 80 Millionen Euro an Sozialleistungen zahlen werden. Die erschreckende Antwort ist: Ich weiß, dass ich sofort 15 Erzieher einstellen müsste, um gegen diese Zukunftsbelastung anzukämpfen, und jungen Menschen eine Chance zu verschaffen. Aber ich darf es mir angesichts der Haushaltsnot nicht leisten. Aber wir leisten uns den Niedergang! Das ist grotesk. Aus dieser Situation müssen wir raus.

SZ: Sie wollen Bund und Ländern Befugnisse und Geld abnehmen?

Albig: Wir brauchen dringend eine neue Debatte darüber, wie wir in Deutschland künftig Geld verteilen. Heute stehen die Kommunen am Ende der Kette. Wir müssen mit den Brosamen klar kommen, die andere übrig lassen. Den Prozess müssen wir endlich mal vom Kopf auf die Füße stellen. Und das heißt: Mehr Stadt statt Staat.

SZ: Wie stellen Sie sich das vor?

Albig: Ich bin dafür, bei einer großen Reform alles zu hinterfragen. Die Bundesverwaltung und auch die der Länder sind zu groß. Wozu brauchen wir 16 Bundesländer? Reichen nicht acht oder gar zwei? Es ist absurd, dass sich Deutschland 16 Denkmalschutz-, 16 Kultus- und 16 Polizeibehörden leistet. Da wird sehr viel Geld verpulvert. Geld, das uns in Städten für die wirklich wichtigen Aufgaben fehlt: Die Kindergärten, die Schulen oder die Straßen. Ein Land wie Schweden verteilt das Geld von unten nach oben. Völlig klar, dass die Schulen einer Gemeinde dann anders aussehen.

SZ: Sie wollen mehr Geld. Die Verteilung der Steuereinnahmen - 43 Prozent für den Bund, 34 für die Länder und 13 für die Kommunen wollen Sie zugunsten der Städte ändern. Wieviel fordern Sie?

Albig: Die Kommunen brauchen als Soforthilfe gegen das strukturelle Defizit mindestens sechs Milliarden Euro - Geld für Aufgaben, die sie erfüllen, für die sie aber nicht bezahlt werden. Dann muss der Umbau der Bürokratie in Deutschland beginnen. Da geht es dann ans Eingemachte.

SZ: Bund und Länder werden das nicht gerne hören. Gut möglich, dass Ihr Appell abperlt. Und dann?

Albig: Ganz einfach. Dann werden Städte der einen oder anderen Aufgabe, zu der uns das Gesetz verpflichtet, vielleicht nicht mehr nachkommen können. Es könnte zu einer Art zivilem Ungehorsam in Rathäusern kommen.

SZ: Was meinen Sie?

Albig: Es passiert, dass eine Stadtverwaltung an einem Morgen einen dicken Stapel Papier mit 40.000 Unterschriften für ein Volksbegehren bekommt. Im Anschreiben steht dann: ,,Prüfen Sie innerhalb von zwei Wochen, ob die Unterzeichner in Kiel wohnen. Ihr Innenminister." Das kostet uns zwei Wochen lang mindestens zwei Vollzeitkräfte. Die haben wir dann vielleicht nicht mehr.

SZ: Die Städte wollen den Kampf mit Bund und Ländern aufnehmen?

Albig: Ja, wir müssen lauter werden. So geht es nicht weiter. Und wir müssen zum Sprachrohr der Menschen werden. Wir sind nicht ,,nur" die Kommunen und die dritte Ebene. Nein. Bürgermeister sind im Land die einzigen Politiker, die in ihr Amt direkt gewählt werden und haben damit auch die größte Legitimation. Und wir stehen für die Ebene der Politik, auf der das Leben passiert. Wir sind nicht der Rand, wir sind die Mitte des Landes.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: