Das Grünwalder Stadion:Geliebter Bastard

Ein Fußballnachmittag hier war stets eine leicht versiffte, proletenhafte Gaudi. Eines Tages, ganz sicher, werden die Sechziger in ihre Heimat zurückkehren.

Sebastian Beck

Wer wissen will, warum die Löwenfans so an ihrer Bruchbude hängen, der sollte das Grünwalder Stadion einmal dann besichtigen, wenn es leer und verlassen daliegt. Der Besucher sollte sich am besten auf die Haupttribüne mit ihren wackeligen Sitzschalen setzen, die Augen schließen und eine Minute lang nur lauschen: auf die Glocken der Giesinger Heilig-Kreuz-Kirche, auf die Trambahn, auf vorbeifahrende Autos und auf die Stimmen der Fußgänger, die der Wind von der Straße hereinweht. Erst danach sollte der Besucher seinen Blick auf das Stadion richten, dieses Stückwerk aus Beton, 99 Jahre alt, grau, abgewohnt, hässlich - aber mitten in der Stadt gelegen. Und voller Erinnerungen.

Grünwalder Stadion

Eine versiffte, leicht proletige Angelegenheit: Eine Partie im Grünwalder Stadion.

(Foto: Foto: dpa)

Das Grünwalder Stadion passt zu den Sechzigern, im Guten wie im Schlechten. "Es ist wie ein altes Haus", schwärmt Roman Beer: "Das Stadion steht dafür, wie der Fußball einmal war." Der Architekt Beer - Jahrgang 1980 - ist Vorsitzender der Freunde des Sechzigerstadions. Wie der Fußball hier einmal war, das kennt er selbst nur noch aus Erzählungen, von alten Fotos und Filmaufnahmen. Es war eine Zeit, als die Männer noch mit schwarzem Mantel und Hut ins Stadion gingen und in der Sportschau die Spielberichte noch mit Musik unterlegt waren. Das ist ziemlich lange her.

Kurz nach dem Krieg drängten sich einmal fast 60 000 Menschen im Grünwalder Stadion, 2:1 gewann der TSV 1860 damals das Spiel vor der Rekordkulisse gegen den 1. FC Nürnberg. Hier holten die Löwen 1966 ihre Deutsche Meisterschaft, hier durchlitten sie ihre Jahre in der Bayernliga und feierten 1994 den Wiederaufstieg in die 1. Bundesliga. Ein Fußballnachmittag im Grünwalder Stadion war stets eine leicht versiffte, proletenhafte Gaudi. Wenn ein Weißblauer hinter der Westtribüne in Zeitlupe zum Zaun torkelte, um sich dort zu übergeben, lautete die Frage: Lag es allein am Bier oder auch am Spielverlauf?

Heute führen die Sechziger ein freudloses, ja geradezu aseptisches Dasein. Wer ihnen zuschauen will, der muss weit hinaus vor die Stadt fahren. Zwischen Autobahn, Mülldeponie und Kläranlage leuchtet die Allianz-Arena, dieser gebaute Traum mit Europas größtem Parkhaus und bargeldlosem Zahlungsverkehr. Ein geschichtsloser, zugiger Ort, aber eine perfekte Fußball-Marketing-Maschine, jedenfalls für den FC Bayern.

Die Löwen dagegen stolpern seit 2005 durch die Arena, als ob sie sich in eine fremde Welt verlaufen hätten, in der alles zwei Nummern zu groß für sie ist. Vom Hausherrn FC Bayern unterscheiden sich die Arena-Löwen vor allem dadurch, dass sie den schlechteren Fußball spielen und nur ein Drittel der Zuschauer anlocken. Und ja, bei den Heimspielen der Sechziger erstrahlt die Arenahaut in einem zarten Blau. Auf Dauer wird das kaum reichen, um die Legende vom Arbeiterverein am Leben zu halten.

Dabei zieht der TSV 1860 schon seit fast vier Jahrzehnten wie ein Mietnomade durch München. So übermächtig die Sehnsucht nach der alten Giesinger Heimat neuerdings wieder ist, so stark war zwischendrin der Wunsch nach Abschied. "Das Flickwerk an der Grünwalder Straße ist geradezu symptomatisch geworden für die Art, wie man im Münchner Rathaus größere Probleme anfasst", schrieb die Süddeutsche Zeitung - im Jahr 1959. Schon damals galt das Stadion, das sich Bayern und Sechzig teilten, als veraltet. Ziel der Stadtpolitik blieb stets der Bau eines modernen "Großstadions".

Als dieses zu den Olympischen Spielen 1972 endlich fertig war, hatte sich im Münchner Fußball bereits der Machtwechsel vollzogen: Die Sechziger pendelten fortan zwischen Erst-, Zweit-, und Drittklassigkeit. Für die Renovierung ihrer Grünwalder Heimat fehlte ihnen schon damals das Geld. Stadtrat Ludwig Schmid lästerte über den "Stadion-Bastard", die SPD wollte diesen Bastard am liebsten abreißen und an seiner Stelle Wohnhäuser errichten. "Münchens traditionelle Fußballarena ist kaum mehr zu retten", lauteten die Schlagzeilen Anfang der 70er Jahre."

Perfekte Lage

Solche Sätze kommen nicht nur Roman Beer gleichermaßen bekannt wie tröstlich vor. Denn in der ewigen Stadiondebatte ist jetzt von schicksalhaften Entscheidungen die Rede, wieder einmal: Nach dem endgültigen Abschied der Sechziger-Profis aus dem Grünwalder Stadion 2005 und dem endgültigen Umzug in die Allianz-Arena hat sich der Stadtrat im März 2010 gegen eine Rückkehr des Bundesligafußballs nach Giesing ausgesprochen, und zwar endgültig. Zum Trost unterstützt Oberbürgermeister Christian Ude den Umzug der Löwen ins Olympiastadion - vorausgesetzt, sie bleiben dort für wenigstens zehn Jahre, am besten aber bis zum Ende der Welt.

Damit zeigt Ude, dass er gedanklich noch nicht ganz so weit ist wie der Vorstand des TSV 1860. Die Verantwortlichen haben - wenn auch zu spät - eingesehen, was die Fans schon lange wussten: Ohne ein eigenes und wesentlich kleineres Stadion kann der Verein auf Dauer kaum überleben. Denn auch die Zwischenspiele im Olympiastadion sind dem Publikum noch in zwiespältiger Erinnerung geblieben. Bei Föhnwetter zählt das ausverkaufte Olympiastadion zu den schönsten Stadien der Welt. Nur leider fallen Föhn- und Spieltage nicht immer zusammen. Und ausverkauft ist es bei den Sechzigern auch nie. Eine Dezember-Partie zwischen 1860 und Paderborn vor 12 000 Zuschauern im Olympiastadion hat allenfalls den Vorteil, das man von den oberen Rängen nur erahnt, was in der Ferne geschieht.

Menschen wie Roman Beer, die es gut mit dem Verein meinen, klammern sich deshalb an die Hoffnung, dass in Zukunft alles besser wird - eine unter den Löwen-Fans weit verbreitete Tugend, die von einer Generation auf die nächste vererbt wird. Er hofft also, dass die Politik doch noch irgendwann kapiert, welch große Vorteile ein renoviertes Bundesligastadion mitten in der Stadt haben könnte. Beer beruft sich dabei auf den britischen Stadion-Architekten Rod Sheared, der prophezeit, dass der Fußball wieder zu den Fans kommen wird: "Wenn sie das Stadion nach ihrer Einkaufstour innerhalb von 10 bis 15 Minuten zu Fuß erreichen können, dann liegt es perfekt in der Stadt", sagt Sheared.

Das Grünwalder Stadion liegt perfekt in der Stadt. Nur ist es mittlerweile in einer ähnlich desolaten Verfassung wie die Löwen; für zehn Millionen Euro soll es wenigstens drittligatauglich gehalten werden. Beer packt nochmal die Machbarkeitsstudie aus, die der Stadtrat in der Luft zerrissen hat. Er ist sich sicher: Es könnte funktionieren - neue Tribünen, neue Dächer, eine Löwen-Arena in Giesing für 30.000 Zuschauer. Wenn die Stadt und ihr Oberbürgermeister Ude nicht bloß dauernd nach Gegenargumenten suchen würden: Lärmschutz, Brandschutz, Bestandsschutz. Und vor allem: Wenn das Geld dafür da wäre. Es muss doch irgendwo auf dieser Welt einen niederbayerischen Spediteur geben, der zu viel davon hat. Oder einen Bauunternehmer. Zur Not auch einen Großgastronomen. Wahrscheinlich wird das Grünwalder Stadion deshalb bleiben, was es ist: Sehnsuchtsort. Stückwerk. Stadion-Bastard.

Selbst wenn es im Moment nicht danach aussieht: Der Stadtrat wird seine Meinung wieder ändern, weil er das immer so getan hat, wenn es um das Grünwalder Stadion ging. Und die Profis der Sechziger, sie werden in ihre Heimat zurückkehren. Wetten? Natürlich wird es wie immer eine Notlösung sein, aber diesmal eine endgültige.

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