Streitgespräch: FDP/Grüne:"Doch" - "Och nee, echt"

Schlagabtausch des Polit-Nachwuches: Die Grüne Arvid Bell und der FDP-Politiker Johannes Vogel debattieren über Ausschließeritis, Marktradikale und irre Linke.

Thorsten Denkler

Johannes Vogel (28, FDP) erscheint in Anzug, weißem Hemd ohne Krawatte und mit Mitarbeiter zum Gespräch im Berliner Restaurant Kanzlereck. Arvid Bell (25, Grüne) kommt mit Umhängetasche und Wanderrucksack.

Johannes Vogel, Arvid Bell

Johannes Vogel und Arvid Bell (re.).

(Foto: Grafik: sueddeutsche.de/oh,ddp)

Bell, in Euskirchen bei Bonn aufgewachsen, hat Politikwissenschaften und internationale Beziehungen in Berlin und Paris studiert. Derzeit arbeitet er für die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Er ist Mitglied im Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen und Gründungsvorstand des Instituts Solidarische Moderne, in dem Politiker von SPD, Grünen und Linken engagiert sind, und war Mitglied im Attac-Koordinierungsrat.

Vogel war von 2005 bis 2010 Chef der Jungliberalen (Julis). Seit 2009 sitzt er im Bundestag und ist arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. Vogel gilt als enger Freund von FDP-Generalsekretär Christian Lindner. Beide kommen aus Wermelskirchen im Bergischen Land.

Eine Cola light auf Eis für Vogel, ein Schwarztee für Bell, dann kann es losgehen.

sueddeutsche.de: Herr Vogel, Herr Bell, Sie sind sich vor dem Gespräch noch nie begegnet. Wie ist der erste Eindruck?

Johannes Vogel: Nett.

Arvid Bell: Ja, nett. Ich habe ja ein bisschen was von dir und über dich gelesen. Es wäre sicher erfreulich, wenn mehr Leute wie du sich in der FDP durchsetzen würden. Aber noch hat ja da die Betonkopf-Fraktion das Sagen.

Vogel: Das ehrt mich natürlich. Aber mein Interesse ist, dass sich bei den anderen Parteien eher die durchsetzen, die in die Mitte streben. Ich habe nur gehört, du seist ein Linker bei den Grünen. Da bin ich mal gespannt, was das heißt. Vielleicht finden wir ja jenseits der Überschriften auch ein paar Gemeinsamkeiten.

sueddeutsche.de: Nach dem Rot-Rot-Grün jetzt gescheitert ist, könnte das ja noch wichtig werden: Also, nur um es mal festzuhalten, weil es ja heißt, Liberale und Grüne könnten sich nicht ausstehen: An diesem Tisch scheint Sondierungsgesprächen nichts entgegenzustehen.

Bell: Zwischen uns beiden? Nein. Ich bin ohnehin der Auffassung, man sollte das Menschliche immer vom politischen Streit trennen.

Vogel: Sehe ich auch so.

Bell: Du warst ja mal bei den Grünen. Von daher passt das schon.

Vogel: Stimmt. Ein Jahr. Dann bin ich zu den Jungen Liberalen gegangen. Ich könnte übrigens auch gut damit leben, wenn sich bei den Grünen die Linken durchsetzen. Dann werden wir für jene Grünen-Wähler interessanter, die liberal denken und für die wir nach meiner Überzeugung die bessere Heimat wären.

Bell: Schön, dass du zugestehst, dass auch Grünen-Wähler liberal denken. Liberal in einem gesellschaftlichen Sinne ist für mich auch überhaupt kein Schimpfwort. Im Gegenteil. Ich finde auch den Wert der Freiheit sehr wichtig.

Vogel: Das ist doch schon mal ein Anfang.

Bell: Was ich am Kurs der FDP so tragisch finde, ist, dass ihre Politik mit diesen Begriffen immer weniger zu tun hat. In den Freiburger Thesen ...

sueddeutsche.de: ... mit denen die FDP 1971 einen sozialliberalen Weg eingeschlagen hat ...

Bell: ... war die Rede von einer Reform des Kapitalismus, von einer Demokratisierung der Gesellschaft, von Fortschritt durch Vernunft. Dein Parteichef Guido Westerwelle hat stattdessen die FDP in eine ideologische Sackgasse geführt. Das gipfelt darin, dass die FDP zwar in Hamburg mit dem Rechtspopulisten Schill koaliert hat, sich aber in Nordrhein-Westfalen weigert, überhaupt mit uns und der SPD über eine Koalition zu sprechen. Der FDP scheint der liberale Wertekompass abhandengekommen zu sein.

Vogel: Wir haben doch beide, Grüne wie FDP, einen Parteitagsbeschluss, der jeweils eine der möglichen Dreierkonstellationen faktisch ausschließt. Wir können gerne darüber reden, ob diese Art der Ausschließeritis noch sinnvoll ist. Aber in der Politik muss man sein Wort halten.

sueddeutsche.de: Der FDP-Landesparteichef Andreas Pinkwart hat gesagt, er spreche nicht mit SPD und Grünen, solange die nicht ausschlössen, mit der Linken zu reden. Es hieß, die FDP wolle kein Steigbügelhalter für ein Linksbündnis sein. Hätte die FDP durch ihre Verweigerung nicht erst recht Gefahr laufen können Steigbügelhalter für Rot-Rot-Grün zu werden?

Vogel: Niemand ist gezwungen, mit der Linken zu koalieren. Ich will die Gegenfrage stellen: Wenn die Linken in der Regierung auch für die Grünen ein Problem sind, warum haben sie dann per Parteitagsbeschluss ausgeschlossen, über "Jamaika" auch nur zu reden?

sueddeutsche.de: Die FDP hat die Gefahr einer Regierungsbeteiligung der Linken zu einem Thema von staatspolitischer Verantwortung gemacht. Dann mit SPD und Grünen nicht mal zu reden, lässt sich doch schlecht damit begründen, dass die Grünen "Jamaika" ausgeschlossen haben.

Vogel: Wenn SPD und Grüne programmatisch so aufgestellt sind, dass sie sich mit der Linken eine Koalition vorstellen können - für viele war das ja in Wahrheit die Wunschkonstellation -, dann gibt es doch ohnehin keine inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit der FDP. Die Ampel-Frage ist in NRW schlicht eine Phantomdebatte.

Bell: Ihr habt doch SPD und Grünen die Tür vor der Nase zugeknallt und eine inhaltliche Debatte gar nicht erst zugelassen.

sueddeutsche.de: Das Phantom Linksbündnis ist ja jetzt aus der Welt geräumt, Herr Vogel. Reden könnten Ihre Parteifreunde in NRW doch jetzt wieder über eine Ampel, oder?

Vogel: Nein, denn wie gesagt sehe ich dafür nach dieser Landtagswahl sowieso keine inhaltliche Grundlage. Der Parteitagsbeschluss gilt, für NRW ist das Thema Ampel einfach durch.

Koalitionen, die Linke und die Stasi

sueddeutsche.de: Jetzt zu Ihnen Herr Bell. SPD und Grüne haben die Sondierungsgespräche mit der Linken aus demokratiepolitischen Gründen abgebrochen. Die Linke hat sich im Wahlkampf mit Leuten präsentiert, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden und die DDR nicht für einen Unrechtsstaat halten. Hätten nicht die Grünen schon viel früher klar sagen müssen: "Mit denen nicht"?

Hannelore Kraft (SPD) und Jürgen Rüttgers (CDU): Werden die beiden demnächst Nordrhein-Westfalen regieren? Foto: dpa

Hannelore Kraft (SPD) und Jürgen Rüttgers (CDU): Werden die beiden demnächst Nordrhein-Westfalen regieren?

(Foto: Foto: dpa)

Bell: Diese Äußerungen sind völlig inakzeptabel. Wir haben als Bündnis 90/Die Grünen starke Wurzeln in der Bürgerrechtsbewegung der DDR. Leider hat es da in den Sondierungsgesprächen keine Klarstellung gegeben, sondern die Linkspartei hat herumlaviert. Das geht nicht.

Außerdem hat sie sich als unzuverlässig und zerstritten präsentiert: Die Linkspartei war nicht in der Lage, verbindliche Verabredungen zum Regierungshandeln zuzusagen und hat damit einen sozial-ökologischen Politikwechsel in NRW verhindert. Darum wird es Rot-Grün-Rot nicht geben. Aber eines muss ich schon noch sagen: Die FDP hat Gespräche über Inhalte gar nicht zugelassen. Sie hat sich schon Sondierungsgesprächen verweigert.

Vogel: Wenn ich deine Argumente ernst nehme, dann verstehe ich nicht, dass die Grünen ein Bündnis mit CDU und FDP ausgeschlossen haben. Warum ist es so unmöglich, dass wir uns der Ampel verweigern - aber so in Ordnung, wenn die Grünen "Jamaika" ausschließen?

Bell: Wir hatten klare inhaltliche Gründe dafür, vor allem in der Energie- und Bildungspolitik, Stichworte erneuerbare Energien und längeres gemeinsames Lernen. Für die schlechte Bilanz dort ist Schwarz-Gelb ja auch abgewählt worden. Und jetzt stell dir mal vor, wenn wir dieser Regierung, mit dem durch Spenden- und Spesenaffären durchgerüttelten Jürgen Rüttgers an der Spitze, wenn wir den Wahlverlierern noch an die Macht verhelfen würden!

Vogel: Dann stell dir mal vor, was in der FDP los wäre, wenn wir uns aus einem Bündnis verabschieden, das in meinen Augen sehr gut gearbeitet hat, beispielsweise durch die Schaffung von mehr Lehrerstellen, den Ausbau der Kinderbetreuung oder die Verschlankung der Verwaltung - und wenn wir stattdessen SPD und Grünen zur Macht verhelfen, die alles verteufeln, was wir in der Regierung gemacht haben.

sueddeutsche.de: Warum geht "Jamaika" im Saarland, aber in NRW nicht, Herr Bell?

Bell: (lange Pause) Das Saarland ist das Saarland ist das Saarland. Jamaika bleibt im Saarland und das ist auch gut so.

Vogel: Na dann.

Bell: Du hast ja recht, solange die Linke in dieser Verfassung ist, haben die anderen Parteien in einem Fünf-Parteien-System Probleme, wenn es um Regierungsbildung geht. Darum müssen in Zukunft die Inhalte entscheiden.

Vogel: Da haben wir ja eine erste Gemeinsamkeit.

sueddeutsche.de: Heißt das, Sie halten es beide für Quatsch, noch einmal irgendeine Dreierkonstellation für die Zukunft auszuschließen?

Vogel: Ich finde, die Zeit der Ausschließeritis sollten wir hinter uns lassen. Das bedeutet aber nicht, dass jedes Bündnis inhaltlich möglich ist.

Bell: Das sehe ich nicht ganz so. Ausschlüsse im Einzelfall ganz aufzugeben, halte ich für falsch - weil der Wähler immer unsicherer wird, welche Regierung er für seine Stimme eigentlich bekommt. Es ist doch nachvollziehbar, dass wir nicht darauf setzen, uns als möglichen Koalitionspartner von Frau Merkel und Herrn Westerwelle nach der Bundestagswahl 2013 in Stellung zu bringen.

sueddeutsche.de: Sie müssen das ja nicht anstreben, nur nicht ausschließen.

Vogel: Das ist genau der Punkt. Nichts auszuschließen heißt ja nicht, dass wir keine Koalitionsaussagen mehr machen.

Bell: Wir sollten zumindest vermeiden, dass wir durch diese Mega-Ausschließeritis in eine Situation kommen, in der außer der großen Koalition ohne Wortbruch kein Bündnis mehr möglich ist. Aber FDP und Linkspartei machen eine Regierungsbildung nicht gerade einfach.

sueddeutsche.de:Sie setzen Linke und FDP gleich?

Stasi-Knast in Berlin- Hohenschönhausen: "DDR schönreden geht nicht." Foto: rtr

Stasi-Knast in Berlin- Hohenschönhausen: "DDR schönreden geht nicht."

(Foto: Foto: rtr)

Bell: Zwischen dem irrlichternden Kurs der FDP und dem Abstreiten, dass die DDR ein Unrechtsstaat war, gibt es gravierende Unterscheide. Aber es gibt Gemeinsamkeiten zwischen FDP und Linken. Beide haben sich in den letzten Jahren zunehmend ideologisiert. Die FDP ist heute eine marktradikale Partei.

sueddeutsche.de: Horst Becker, der für die Grünen im NRW-Landesparlament sitzt, hält die FDP für einen Verein marktradikaler Extremisten. Sie sehen das auch so, Herr Bell?

Bell: Markradikal und ideologisch, so sehe ich die FDP, ja.

Vogel: Darf ich mal dazwischengehen, weil ich das kaum glauben kann. Würdest du tatsächlich die unklare Distanzierung der Linkspartei vom Unrechts-Regime der DDR, insbesondere in Nordrhein-Westfalen, mit einer angeblichen Ideologisierung der FDP gleichsetzen?

Bell: Sekunde, Sekunde, das setzte ich nicht gleich. Die DDR schönreden geht nicht, läuft nicht. Aber wenn ich mir beide Parteien anschaue, dann sehe ich, dass sich die Linkspartei auf altlinke Positionen zurückgezogen hat. Sie glaubt, der Staat löse alle Probleme, in der Außenpolitik scheint mir so etwas zu dominieren wie...

Vogel: ... ein Nationalegoismus?

Bell: Etwas in der Art. Das ist auch antieuropäischer Populismus und einfach wirr. Aber, tut mir leid, die FDP ist mit ihren marktradikalen Thesen ähnlich strukturiert. Ich frage mich, ob du reinen Herzens vertreten kannst, was die FDP in letzter Zeit so gefordert hat. In NRW habt ihr jedenfalls die Quittung dafür bekommen. Mit der FDP assoziieren die Menschen nicht mehr Freiheit in Verantwortung sondern Klientelpolitik, Lobbyismus und Steuergeschenke an Hoteliers. Wenn der Westerwelle-Kurs so weiterläuft, dann geht die FDP daran kaputt.

Vogel: Da habe ich mal eine Frage, weil mich das ernsthaft interessiert. Wenn wir den Holperstart der Regierung mal außen vor lassen: Ich höre ja häufig dieses Schlagwort von der "marktradikalen Ideologisierung der FDP". Das geht euch sicher leicht von den Lippen. Programmatisch aber ist das durch nichts gedeckt. Jetzt bitte konkret: Woran machst du den Vorwurf fest?

Bell: Die schwarz-gelbe Landesregierung in unser beider Heimatland hat doch eine wunderbare Blaupause dafür geliefert, die Privat-vor-Staat-Ideologie, mit der schon der Koalitionsvertrag überschrieben war. Dahinter steht doch die Vorstellung: Die gute unsichtbare Hand des Marktes wird schon alles richten, Rückzug des Staates, Regulierung ist per se schlecht.

Dieses Denken ist mit der Wirtschaft- und Finanzkrise gescheitert. Die FDP hat einfach weitergemacht, sie wollte Steuern senken um jeden Preis. Westerwelle hat das immer noch beschleunigt. Was die gesellschaftliche Akzeptanz angeht, sitzt ihr heute in einer Nische.

Vogel: Na ja, dass die FDP bei der Bundestagswahl 14,6 Prozent geholt hat, ist für mich nicht unbedingt ein Indikator dafür, dass die Zustimmung zu liberalem Denken abnimmt. Und es ist doch eine berechtigte Freiheitsfrage, wo der Staat wie weitgehend sinnvollerweise tätig sein sollte und wo das die Freiheit der Menschen einschränkt.

sueddeutsche.de: Bei der Bundestagswahl haben rund eine Million Gewerkschafter und Arbeitslose die FDP gewählt. Die dürften jetzt alles wieder weg sein. Wie erklären Sie sich das?

Vogel: Wir müssen nicht darüber reden, dass wir uns in NRW mehr gewünscht hätten. Aber NRW war auch keine Bundestagswahl.

Bell: Richtig. Die Wähler sind weg, weil die FDP nach der Bundestagswahl die Katze aus dem Sack gelassen hat.

Vogel: Die Bundestagswahl hat gezeigt, dass die FDP auch weit über die klassische Anhängerschaft hinaus attraktiv sein kann. Dass das in NRW nicht gelungen ist und die Performance der Bundesregierung besser werden musste, bestreite ich ja gar nicht.

sueddeutsche.de: Herr Bell sagt, die FDP habe ihren liberalen Kompass verloren. Ist das so?

Vogel: Das gehört zu dem Zerrbild, das nicht nur er von uns zeichnet. Wir müssen sicher daran arbeiten, das wieder geradezurücken. Es entspricht aber weder der Partei, wie ich sie kenne, noch unserem Parteiprogramm. Wir sind breit aufgestellt. Auch in der Sozialpolitik. Wenn es um Bürgerrechte geht, sind wir nah beieinander. Ich habe eher den Eindruck, dass die Grünen sich thematisch verengen.

Die Zerrbilder über die Liberalen

Ist die FDP doch mehr als eine Mövenpick-Partei? Foto: dpa

Ist die FDP doch mehr als eine Mövenpick-Partei?

(Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: War das ein Grund, nicht bei den Grünen zu bleiben?

Vogel: Ja. Ich bin damals von den Grünen weggegangen, weil mir der Freiheitsbegriff über die Gesellschaftspolitik hinaus nicht tief genug verankert war. Gegenüber der wirtschaftspolitischen Dimension von Freiheit habe ich bei den Grünen immer starke Vorbehalte gespürt.

sueddeutsche.de: Welche Zerrbilder gibt es denn noch von der FDP?

Vogel: Uns wurde immer wieder vorgeworfen, wir wollten Steuersenkungen nur für Reiche und um jeden Preis. Das stimmt nicht. Wir wollen Steuersenkungen und vor allem Steuervereinfachung für niedrige bis mittlere Einkommen. Oder der Vorwurf, wir hätten in der Finanzkrise nicht dazugelernt. Wir sind klar für eine bessere Regulierung der Finanzmärkte. Wir sehen aber auch, dass etwa die Griechenland-Krise kaum auf Spekulanten zurückzuführen ist. Die haben die Krise verschärft. Ausgelöst hat sie ein aufgeblähter Staatsapparat, deshalb wollen wir auch eine Verschärfung des Euro-Stabilitätspaktes.

In Deutschland muss ich mich jedoch diffamieren lassen, wenn ich darauf hinweise, dass öffentliche Beschäftigung nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann, weil sie den Staat überfordern kann. Dann heißt es gleich, dass sei Privat-vor-Staat-Ideologie. Das ist mir ein bisschen zu einfach. Also sage doch bitte konkret, weswegen du uns genau Marktradikalismus vorwirfst.

Bell: Gerne. Warum hat die FDP bisher auf Biegen und Brechen versucht, eine Finanztransaktionsteuer zu verhindern? Das war eine sture und ideologische Blockadehaltung gegen ein Instrument, mit dem die Finanzindustrie an den Kosten der Krise beteiligt werden kann. Und jetzt komm mir nicht mit eurer Finanzaktivitätssteuer, die Boni und Gewinne besteuert, aber nicht den konkreten Handel mit Finanzprodukten.

Vogel: Doch.

Bell: Och nee, echt.

Vogel: Arvid, ich habe gelesen, du hast dich auf einem Grünen-Parteitag zu einer neuen Sanftheit in der Politik bekannt. Dann bitte ich dich, doch ein bisschen rhetorisch abzurüsten und nicht jedes Argument des politischen Gegners gleich als Unsinn darzustellen. Wir sind uns einig, und das ist doch gut, dass der Finanzsektor an den Krisenkosten beteiligt werden soll.

Jetzt ist doch nur die Frage, ob mit einer Gewinnbesteuerung oder mit einer Umsatzbesteuerung wie bei der Finanztransaktionssteuer. Die Alternative wird ja jetzt auf internationaler Ebene diskutiert. Mich überzeugen eben die Argumente, dass wir an die Spekulationsgewinne ran wollen und nicht an jede einzelne Finanztransaktion. Eine Umsatzsteuer auf Finanzprodukte würde Finanzprodukte bis hin zur Lebensversicherung für den Verbraucher nur teurer machen. Man kann da ja anderer Meinung sein. Nur: Aus diesem Dissens abzuleiten, wir seinen marktradikal verblendet, das ist mir ehrlich gesagt zu dünn. Ich warte immer noch auf das konkrete Beispiel.

Bell: Das habe ich doch gerade genannt. Ihr hattet lange die Chance, bei der Finanztransaktionssteuer Farbe zu bekennen und habt es nicht gemacht.

Vogel: Wir sind uns also im Ziel einig. Nur, weil wir über die Instrumente im Detail unterschiedlicher Meinung sind, sind wir marktradikal?

Bell: Ihr regiert doch seit über einem halben Jahr, ihr müsst handeln! Ich sehe nur, dass ihr nicht in die Gänge kommt, außer mit symbolischen Aktionen nach öffentlichem Druck.

Vogel: Wir handeln doch. Die Regulierung der Hedgefonds ist beispielsweise jetzt in Europa eingeleitet und es ist beschlossene Sache, dass wir eine der beiden Formen der Finanzmarktsteuer wollen. Aber du musst uns doch zugestehen, dass wir Instrumente verfolgen, die sinnvoll und auch auf globaler Ebene durchsetzbar sind. Mir leuchtet deine Kritik an uns an dieser Stelle nicht ein.

Bell: Dann nimm doch einfach die Senkung der Mehrwertsteuer für Hoteliers.

Vogel: Die haben die Grünen in Bayern auch gefordert. Sind die deshalb marktradikal?

Bell: Nein, natürlich nicht. Aber bei euch haben Steuersenkungsideologie und Klientelpoltik System. Das Problem der FDP ist doch, dass sie ihre elf Jahre in der Opposition nicht genutzt hat, um sich programmatisch neu aufzustellen. Ihr habt im Bundestagswahlkampf vieles gefordert, was dem harten Realitäts-Check nicht standhält. Bei den Steuersenkungsversprechen angefangen. Es würde dem politischen Streit guttun, wenn die FDP sich daran machte, ihre intellektuellen Batterien wieder aufzuladen.

Vogel: Es würde dem politischen Streit guttun, wenn dem politischen Gegner der Intellekt nicht abgesprochen werden würde. Ich bin ja nicht frei von Selbstkritik. Aber wir stehen auch für eine Vereinfachung des Steuersystems, wofür es eine breite Unterstützung in der Bevölkerung gibt. Wir stehen für eine Trendumkehr in der Bürgerrechtspolitik, Beispiel Rücknahme der Netzsperren. Wir sind dabei, Ungerechtigkeiten im Hartz-IV-System zu korrigieren. Ich bitte nur darum, das und mehr auch zur Kenntnis zu nehmen.

Bell: Ich kann nur mit Hildegard Hamm-Brücher sagen, der Kapitalismus, den Herr Westerwelle vertritt, der ist nicht mehr zu vertreten, der hat abgewirtschaftet. Da hat eine große Liberale ein wahres Wort gesprochen.

sueddeutsche.de: Halten wir wenigstens fest, miteinander reden lohnt sich?

Bell: Das lohnt sich immer.

Vogel: Ja klar. Ich würde mir nur wünschen, dass wir von diesen Zerrbildern wegkommen, die sich nur auf der Ebene von Überschriften bewegen. Klischees sind nie ein guter Ratgeber in der Politik.

Bell: Das stimmt.

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