Werner Kelnhofer:Auf einem fremden Planeten

Werner Kelnhofer aus Wartenberg ist Autist - mit seiner Internetseite versucht er, möglichen Leidensgenossen das Leben zu erleichtern.

Christina Warta

Wenn Werner Kelnhofer ein Wort liest, entsteht in seinem Kopf sofort ein Bild. "Gemüsekiste" zum Beispiel: Dann stellt er sich sofort Kartoffeln und Zucchini vor, Zwiebeln vielleicht und Karotten, verpackt in einer Holzkiste. Er kann gar nicht anders, das Bild ist da, und es ist viel größer, viel umfassender als das zugehörige Wort mit elf Buchstaben. "Ich bräuchte manchmal tausend Worte, um die Bilder in meinen Gedanken zu erklären", sagt er. Doch Werner Kelnhofer schweigt stattdessen, er senkt den Kopf ein bisschen und schaut dabei seinem Gegenüber nicht in die Augen, sondern auf den Mund. Und er kommt den meisten Menschen dann vor wie ein komischer Kauz.

Werner Kelnhofer: Werner Kelnhofer muss tagein, tagaus schauspielern. Auf dem Spielplan steht immer wieder das gleiche Stück: Werner Kelnhofer, der Unauffällige. Der 59-Jährige ist Autist, der Umgang mit anderen Menschen bereitet ihm Probleme.

Werner Kelnhofer muss tagein, tagaus schauspielern. Auf dem Spielplan steht immer wieder das gleiche Stück: Werner Kelnhofer, der Unauffällige. Der 59-Jährige ist Autist, der Umgang mit anderen Menschen bereitet ihm Probleme.

(Foto: Catherina Hess)

Werner Kelnhofer weiß, warum das so ist. Vor drei Jahren hat er seine Diagnose erhalten: Asperger-Autismus. Zum Gespräch in den neutralen Räumen des Autismuskompetenzzentrums "Autkom" in München ist er in einer schwarzen Lederhose im Trachtenstil und dem dazu passenden rustikalen Hemd gekommen. Alles ganz normal, keine Auffälligkeiten - auf den ersten Blick ist er ein Mann wie viele andere auch. Doch Werner Kelnhofer aus Wartenberg ist einer von geschätzten 20000 Menschen in Oberbayern, die unter Autismus leiden, einer Entwicklungsstörung der Persönlichkeit. "Ich leide nicht unter Autismus, ich bin nicht krank, ich fühle mich nicht krank", korrigiert er in strengem Ton. "Ich bin krank, wenn ich Grippe habe." Kelnhofer vergleicht Autismus lieber mit jenen Problemen, die ein Linkshänder in seinem Leben hat: "Er hat eine andere Gehirnstruktur, er kann lernen, mit der rechten Hand zu essen und zu schreiben. Aber er bleibt ein Linkshänder - und er wird sich immer vermehrt anstrengen müssen."

Genauso ist es bei Werner Kelnhofer. Der 59-Jährige muss tagein, tagaus schauspielern. Auf dem Spielplan steht immer wieder das gleiche Stück: Werner Kelnhofer, der Unauffällige. Manche Experten sagen, seine Form von Autismus, der Asperger-Autismus, sei eine leichte Form dieser speziellen Gehirnstörung. "Das stimmt nicht", glaubt er selbst. "Mein Autismus ist stark ausgeprägt. Ich bin nur anpassungsfähiger." Die Störung wird wohl vererbt, sein Vater hat sie vermutlich ebenso gehabt, wie sie wahrscheinlich der jüngere seiner beiden erwachsenen Söhne hat.

Autisten haben vor allem Probleme bei der Kommunikation mit ihren Mitmenschen. Sie sind lieber allein, mögen soziale Kontakte nicht, können anderen nicht in die Augen sehen. Stattdessen beschäftigen sie sich exzessiv mit bestimmten Themen. Bei Kelnhofer war es erst der Magnetismus, dann die Quantenphysik, später die Fotografie. Auf diesen Spezialgebieten können sie es zu außergewöhnlichen Fähigkeiten bringen.

Das Leben von Werner Kelnhofer ist anstrengend, im Grunde fühlt er sich manchmal wie auf einem fremden Planeten. "Kennen Sie Commander Data?", fragt er unvermittelt. Der Android von "Raumschiff Enterprise" versteht Witze nicht und kann keine Gefühle empfinden, dafür ist er ein Rechengenie und vergisst nie etwas. "Genau so fühle ich mich oft." Kelnhofer blickt auf die Lippen seines Gegenübers, dann irgendwohin in die Leere des Raums. Bei Stress, wird er später sagen, suchen sich seine Augen einen Ruhepol: die Steckdose, eine Türklinke, so etwas.

Genau wie Commander Data hat Kelnhofer Probleme im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen: Mimik, Gesten oder einen veränderten Tonfall kann er oft nicht erkennen, ebensowenig wie Ironie oder Sarkasmus. Was nicht in Worte gefasst wird, bekommt Kelnhofer nicht mit. "Ich kann es nicht erkennen", sagt er, "ich sehe oder fühle es nicht."

Außerdem sind viele Autisten gesichtsblind - sie erkennen Menschen nicht am Gesicht wieder. Und so geht Werner Kelnhofer hin und wieder an Bekannten vorbei, als hätte er sie noch nie gesehen. So mancher reagiert beleidigt, doch auch das erkennt er nicht. Zwar versucht Kelnhofer, sich Brillen zu merken oder den typischen Gang eines Menschen. Doch wenn sich einer eine andere Brille kauft, funktioniert der Trick schon nicht mehr. Und wenn Kelnhofer einem Menschen in beiläufigem Ton erklärt, dass er sich bei ihm immer die große Nase merkt, bleibt sein Gegenüber konsterniert zurück.

Der soziale Umgang mit Menschen fällt ihm schwer, als sprächen die anderen eine Sprache, die er nicht versteht. Zahlen dagegen sind seine Muttersprache. In einem Computerprogrammierkurs, der eigentlich zwei Tage dauern sollte, langweilte sich der gelernte Elektrotechniker nach einer Stunde. Er hat keinen höheren Schulabschluss, ist Autodidakt. Doch die logische Programmiersprache von Computern entspricht seinem Denken viel mehr als der gefühlsbetonte Umgang der Menschen. "Ich denke in der Computersprache", sagt er, "wenn ich am Computer sitze, ist der soziale Stress weg. Am PC muss ich nicht kompatibel sein." Da funktioniert alles wie von selbst.

Er hat die Pläne für sein Haus in Wartenberg selbst gezeichnet, hat die Baustatik selbst geplant. Das Wissen dazu eignete er sich in einer einzigen Nacht an, andere müssen dafür viele Semester an einer Hochschule studieren. "Und das Haus steht seit 20 Jahren", sagt er mit einem verschmitzten Lachen.

Mehrere Intelligenztests haben den unscheinbaren Mann mit dem weißen Haar, dessen Gehirn Informationen verarbeitet wie ein Hochleistungsrechner, längst als Hochbegabten ausgewiesen. Schon als Kind hat er ein mehrbändiges Lexikon ausgelesen - von A bis Z natürlich. Und auch das Chaos in seinem Arbeitszimmer ist nur für andere eine schreckliche Unordnung: "Ich finde alles darin", sagt er, und der Stolz in seiner Stimme ist nicht überhörbar. Es sei denn, jemand legt ein Blatt Papier irgendwo hin - dann ist für ihn mit einem Schlag alles in Unordnung, nichts stimmt dann mehr.

Obwohl vieles anders ist bei Werner Kelnhofer, scheint er nach außen hin ein ganz gewöhnliches Leben zu führen: Er ist seit 37 Jahren verheiratet, er hat zwei Söhne und ist erfolgreich in seinem Beruf. "Ich hätte mich selbst nie als autistisch bezeichnet", sagt Kelnhofer. Jahrzehntelang fühlte er sich zwar immer wieder als Außenseiter, und so recherchierte er immer mal wieder nach möglichen Gründen, die ihn anders machten als andere Menschen. Er machte Tests im Internet, hatte einen Verdacht, ging zu einem Spezialisten. Erst am 6. Februar 2007 bekam er seine Diagnose: Asperger-Autismus. Seither weiß er endlich, warum er ist, wie er ist.

"Manches ist dadurch leichter geworden, manches schwieriger", sagt er. Der offene Umgang mit Autismus ist nicht immer einfach für ihn, schließlich ist ihm selbst auch bewusst geworden, wodurch er sich von den meisten Menschen unterscheidet - und dass er es nicht ändern kann.

Kelnhofer hat Kontakt zu anderen Betroffenen aufgenommen: Menschen, die keinen sinnlosen Smalltalk brauchen, solange sie im Restaurant auf das Essen warten, die einfach nur still dasitzen, während sie von den anderen Besuchern des Lokals irritiert betrachtet werden. Diese Abende empfindet er als erleichternd: Da treffen lauter Commander Datas aufeinander, die sich nichts vorspielen müssen, sondern einfach so sein können, wie sie gerne wären. Außerdem betreibt er eine Website (www.as-tt.de), um mögliche Leidensgenossen über Asperger-Autismus zu informieren.

Denn im Alltag hat Werner Kelnhofer manchmal auch genug von der Kelnhofer-Show. Wenn ein bestimmtes Maß überschritten ist, beginnt um ihn herum ein höllisches Rauschen, der Hochleistungsrechner in seinem Gehirn stürzt ab. "Die Umgebung erscheint dann unwirklich", sagt er, "wie ein Hologramm." Dann muss er raus, braucht Ruhe, damit sich das Tosen in seinem Kopf wieder beruhigt und der wild schäumende Gedankenstrom, der ohnehin niemals zu stoppen ist, wenigstens wieder in ruhigeren Bahnen fließt. Erst dann kann Werner Kelnhofer weiter sich selbst spielen - so wie jeden Tag.

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