Digitaler Entzug:Redakteur Robinson auf der Offline-Insel

Der digitalen Welt entfliehen und doch nirgendwo ankommen: Immer mehr Menschen versuchen, ihren Internetkonsum einzuschränken - Erfahrungen eines Entschleunigten.

Alex Rühle

Ob Nicholas Carr wusste, was für ein Erdbeben er lostreten würde in der digitalen Welt? Im August 2008 formulierte der Publizist und Blogger im Atlantic Monthly sein Unbehagen an der digitalen Kultur.

Offline-Insel Internetentzug

Das Ungehagen am Digitalen ist zum Teil auch ein Unbehagen am Alltag des 21. Jahrhunderts.

(Foto: online.sdedigital)

In dem Aufsatz "Is Google making us stupid?" beschrieb er eindrücklich, wie sich sein Gehirn durch das permanente Linkhopping an das zappelige Netz adaptiere. "Mich beschleicht das unangenehme Gefühl, dass jemand oder etwas an meinem Gehirn herumgebastelt hat. Früher fiel es mir leicht, mich in einem Buch zu verlieren. Heute kommt das kaum noch vor. Ich werde nach zwei Seiten zappelig und schaue mich nach einer anderen Beschäftigung um(...) Früher war ich ein Taucher im Ozean der Worte. Heute rausche ich auf der Oberfläche entlang wie ein Wasserskifahrer."

Spätestens seit diesem Text wurde die Klage von der Konzentrationszerstäubung zum Leitmotiv der Internetkritik. Kürzlich veröffentlichte Carr nun das Buch "The Shallows - What the Internet is doing to our Brains", eine Art extended Version seines Artikels.

Seine Beschreibungen der permanenten Aufmerksamkeitszerstäubung, sein Tableau einer Gesellschaft, die Tag für Tag aufs Neue durch den digitalen Konzentrationsschredder läuft, ist beeindruckend und rhetorisch brillant.

Selektives Horrogemälde

Auf fast schon diabolische Art suggestiv wird "The Shallows" aber, wenn Carr seine Befunde mit neurologischen Studien unterfüttert, die angeblich ein für allemal belegen, dass unsere Gehirne durch das Zappen und Surfen auf fatale Weise umgebaut werden, dabei aber all die gegenläufigen Untersuchungen, die es genauso gibt und die nahelegen, dass das Gehirn und gerade die selektive Aufmerksamkeit, die Carr ja ein für alle mal verloren glaubt, durch das Surfen geschult werden, konsequent verschweigt.

Carr montiert die neurowissenschaftlichen Studien, die ihm in den Kram passen, zu einer Art Horrorgemälde: das kollektive Gedächtnis erlischt, das Internet grillt unser Hirn zu Neuronenbrei, in wenigen Jahren werden wir eine Gesellschaft aus Barbaren und funktionalen Analphabeten sein.

Da wundert man sich irgendwann dann doch, wie der bekennende Onlinejunkie dazu in der Lage war, 240 brillant formulierte, argumentativ suggestive Seiten zusammenzubringen, wenn sein Gehirn derart zerstört wurde durch das Netz. Hat sich diese Verkümmerung in der kurzen Zeit des Buchschreibens, in der er seinen Internetkonsum stark reduzierte, zurückgebildet?

Die digitale Fastenzeit

Wie auch immer: Carr traf einen Nerv. Wie entzündet dieser Nerv bei vielen mittlerweile ist, kann man an einer merkwürdigen Koinzidenz sehen: Immer mehr Leute versuchen, ganz unabhängig voneinander, ihren Netzkonsum auf die eine oder andere Art und Weise zu reglementieren.

In England hat eine ganze Familie das Internet aus dem Haus verbannt und schaut sich beim Entzug zu. Der Neon-Redakteur Christoph Koch hat sich für sechs Wochen ausgeklinkt und über diese Erfahrung ein Buch verfasst. Der englische Soziologe Richard Sennett schickt seit einiger Zeit auf Mails nur noch eine automatisch generierte Antwort, dass es ihm einfach zu viel geworden sei mit den Mails, weshalb er nicht mehr antworte.

Ich selbst habe ein halbes Jahr digital gefastet. All diese Selbst(schutz)versuche haben nichts mit Technikfeindlichkeit zu tun, sondern gehen auf ein Unbehagen zurück, das der Spiegel in seiner aktuellen Titelgeschichte ins Positive wendet: "Über die Kunst des Müßiggangs im digitalen Zeitalter".

Die Welt wird eine Google, das Netz dringt wie Wasser in alle Lebensbereiche. Ja, es gehört für die, die drin sind, mittlerweile so selbstverständlich zum Lebenshintergrund wie die Schwerkraft oder die Luft zum Atmen. Da ist es doch mal interessant, sich für eine Weile daneben zu stellen und zu schauen, inwieweit dieser Schritt das Leben entschleunigt.

Geräte könnnen nicht isoliert betrachtet werden

Wird man dadurch wieder konzentrierter? Bekomme ich meine Vergesslichkeit in den Griff? Was passiert mit dem Zeiterleben, wenn das zwanghafte, alltagszerstückelnde Mail-Checken wegfällt?

Kurzum: Hat Carr recht mit seiner Diagnose von der neuronalen Totalzerschredderung? Vordergründig betrachtet, ja. Ich zumindest habe während meiner digitalen Fastenzeit tatsächlich wieder sehr viel mehr Bücher gelesen als in der Zeit davor. Aber das hatte vor allem damit zu tun, dass ich während des halben Jahres immer wieder ganze Monate frei genommen habe. Und dass die Kollegen mich in dieser Zeit tatsächlich in Ruhe gelassen haben, statt mich spätabends noch mit Mails einzudecken.

Die Diskussion über das Netz krankt ja oftmals daran, dass die Geräte so isoliert betrachtet werden. Klar addieren sich Mail, Skype und Facebook zu einem nervtötenden Geprassel, klar ist es aufmerksamkeitszerstäubend, alle paar Minuten ins Netz abzubiegen, so wie andere eine rauchen.

Als ich noch online war (und seit ich es wieder bin), kamen und kommen mir Arbeitstage im Nachhinein oft so vor, als hätte ich in der staubtrockenen Luft eines Kopierladens nur leere Blätter in die Luft geworfen, bleiche, zerfaserte Zeit.

Als würde da einer hinter meinem Rücken, während ich in den Bildschirm starre, mit dem Tintentod über den Tag drübergehen: Kaum vergangen, ist alles verblasst. Aber das liegt nur zum Teil am Netz. Zu großen Teilen ist es ganz normaler Arbeitnehmer-Seelenverschleiß des rundum beschleunigten 21. Jahrhunderts.

Überspülung der Langsamkeitsinsel

70 Prozent alle Arbeitnehmer sind mittlerweile auch in ihrer Freizeit für ihren Arbeitgeber oder die Kunden erreichbar. Ein ehemaliger Senior Partner bei Boston Consulting sagte mir während meines digitalen Fastens, ihm täten die heutigen Mitarbeiter einfach nur leid: "Natürlich kommunizieren die mehr, als wir früher. Aber die wachen ja auch jeden Morgen auf mit der Furcht, im Schlaf etwas verpasst zu haben. Und da alle Kollegen ihre Smartphones mitnehmen in den Urlaub, muss das der Familienvater auch tun. Die Kunden erwarten heutzutage, dass man 24 Stunden am Tag erreichbar ist."

Immer weniger Leute wagen es, ihren sogenannten "Abwesenheitsagenten" anzuschalten, schließlich signalisiert der, dass man jetzt Feierabend habe. Der geregelte Arbeitstag aber, die Fünftagewoche mit privatem Feierabend muten mittlerweile so behaglich anachronistisch an wie Helmut Kohls wärmende Strickjacke, die im Haus der Deutschen Geschichte liegt als Erinnerung an die Wiedervereinigungsverhandlungen mit Gorbatschow.

Mittlerweile sind alle Mauern weg zwischen privat und beruflich: warum nicht abends schnell den Termin koordinieren, einen Trommelkurs für die Kinder suchen, noch ein paar Texte für das aktuelle Projekt durchgehen und einen Flug buchen?

Und ist doch super, wenn man schon am Sonntag zehn Mails beantwortet, dann muss man das nicht mehr am Montagmorgen im Büro machen. "Es ist, als wären die Wände unserer Häuser zu Membranen geworden, absolut durchlässig für alles, für alle Nachrichten und Neuigkeiten", schreibt der amerikanische Sachbuchautor William Powers in seinem Buch "Hamlet's BlackBerry".

Die Wohnung hat wieder Wände

Das war das Beste am Fasten: Unsere Wohnung hatte wieder Wände, ich bin nicht mehr nachts durchs Netz gegeistert auf der Suche nach Themen, sondern war tatsächlich zu Hause. Die gehetzte Unruhe während der Arbeit aber blieb dieselbe wie vor dem Abschalten: Ich habe ruhelos Kataloge gescannt, mich durch die Meldungen gewühlt und Magazine nach Themen durchgerastert. Die Arbeitszeit kam mir weiterhin wie eine abschüssige, seifig glatte Fläche vor, auf der man unmöglich bremsen kann.

Und statt in dem schönen grünen Stuhl zu sitzen, den ich mir vor Beginn des Experiments ans Fenster gerückt habe, um als freier analoger Mensch den Blick über die Alpen schweifen zulassen, hing ich weiterhin am Flachbildschirm, nur jetzt wie das Opfer einer Dürrekatastrophe, das seinen leeren Becher unter den tröpfelnden Hahn hält, aus dem es früher in viel zu dickem Strahl sprudelte.

Zuweilen kam mir mein digitales Fasten so vor, als würde ich im reißenden Strom der Zeit hingebungsvoll eine winzige Langsamkeitsinsel aufschütten, die aber fortwährend von allen Seiten überspült wird: Ich habe mein Essen runtergeschlungen und währenddessen die Zeitung gelesen, habe während des Telefonierens heimlich weitergetippt, und hatte in der Redaktion permanent das Gefühl, zu langsam zu sein, nichts mehr mitzubekommen.

Und was Carrs neurologische Studien anbelangt: Ich habe nur ein Gehirn und keine wissenschaftlichen Hirnstrommessungen unternommen, kann also nur mit einer äußerst schmalen empirischen Basis aufwarten. Aber meine Vergesslichkeit wurde nicht besser. Die innere Unruhe auch nicht.

Und wenn ich irgendetwas gelernt habe aus dem halben Jahr, dann, dass es mittlerweile unmöglich ist, ohne Google zu leben. Ich war der Redaktionstroglodyt. Der bizarre Zausel. Der analoge Außenseiter. Das Experiment klappte, weil man mich toleriert und mitdurchgeschleppt hat. Auf Dauer aber geht es nicht.

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