Bildungsforscher Hurrelmann:"Wir stecken die Schüler in Boxen"

Bildungswissenschaftler Klaus Hurrelmann erklärt, warum die Schulreform in Hamburg gescheitert ist, wie die ideale Schule aussieht und warum das Gymnasium nicht angetastet werden darf.

Maria Holzmüller

Hamburg hat sich am Wochenende im Volksentscheid gegen die sechsjährige Primarschule entschieden. Der Übergang aufs Gymnasium ist damit weiterhin nach der vierten Klasse möglich. Die Diskussion über das perfekte Schulsystem geht aber weiter. Der Bildungswissenschaftler Klaus Hurrelmann, 66, spricht über den Sinn des längeren gemeinsamen Lernens, die Sonderrolle des Gymnasiums und gestresste Eltern.

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Der Bildungswissenschaftler Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance in Berlin über die Lehren aus dem Hamburger Volksentscheid.

(Foto: Fotos: iStockphoto, dpa / Grafik: sueddeutsche.de, Helldobler)

sueddeutsche.de: Herr Hurrelmann, Hamburgs Bürger haben beim Volksentscheid gegen die sechsjährige Primarschule gestimmt. Wie bewerten Sie die Entscheidung?

Klaus Hurrelmann: Das Ergebnis kam nicht überraschend. Schon im Vorfeld war zu spüren, wie groß die Irritation in Teilen der Elternschaft über die Reformpläne war. Die politische Entscheidung, die Grundschule auf Kosten des Gymnasiums um zwei Jahre zu verlängern, kam zu unvermittelt für die Bevölkerung.

sueddeutsche.de: Der Widerstand richtete sich vor allem gegen die Verkürzung der Gymnasialzeit. Teilen Sie diese Abneigung?

Hurrelmann: Sie ist nachvollziehbar. Eltern haben den intensiven Wunsch, dass ihr Kind das Abitur macht, um sich die bestmöglichen Berufsaussichten zu wahren. Auch wenn es im deutschen Schulsystem Alternativen zum Gymnasium gibt und andere Schulformen ebenfalls den Weg zum Abitur ermöglichen: In den Köpfen sitzt fest, dass das Gymnasium das Kind am schnellsten zu diesem Ziel bringt. Deshalb lastet ein riesiger Druck auf Kindern und Eltern - sie wollen so schnell wie möglich die Entscheidung treffen, dass ihr Kind auch wirklich das Gymnasium besucht. Alle anderen Alternativen, wie in Hamburg die Stadtteilschule, die auch das Abitur ermöglicht, erscheinen ihnen nur verwirrend. Das ist natürlich kurzsichtig, denn auch nach einer sechsjährigen Schulzeit besteht am Ende die Möglichkeit, aufs Gymnasium zu wechseln, die Option bleibt sogar länger bestehen.

Mit aller Macht zum Abi

sueddeutsche.de: Wie lässt sich dieser Druck auf Eltern und Kinder mindern?

Hurrelmann: Die Optionen der Kinder müssen möglichst lange offengehalten werden. Angesichts der Arbeitsmarktsituation ist es nachvollziehbar, dass Eltern mit aller Macht das Abitur für ihre Kinder anstreben. Genau an diesem Punkt, wo der Druck entsteht, muss die Bildungspolitik ansetzen. Der Druck für die Eltern könnte sich mindern, wenn es nach der Grundschule nur zwei weiterführende Schulformen gäbe: das Gymnasium und eine weitere Schule, in der alle Abschlüsse - auch das Abitur - möglich sind.

sueddeutsche.de: Aber das Gymnasium als Sonderform muss erhalten bleiben?

Hurrelmann: Derzeit muss das Gymnasium erhalten bleiben, weil sonst keine Verständigung mit den Eltern möglich ist. Das Gymnasium ist die erfolgreichste Schulform in Deutschland. Wer kann, geht dorthin. Auch die Grundschule funktioniert und schneidet im internationalen Vergleich gut ab. Wer an diesen beiden Schulen herumdoktert, muss mit besonderer Vorsicht vorgehen. Die Eltern haben kein Verständnis, dass an erfolgreichen Modellen etwas geändert werden soll.

sueddeutsche.de: Bei der geplanten Primarschule ging es um die Idee des längeren gemeinsamen Lernens. Wie sinnvoll ist das wirklich?

Hurrelmann: Die Idee des längeren gemeinsamen Lernens ist sehr sinnvoll. Aber in unserem Schulsystem geht es immer irgendwann um die Entscheidung, welches Kind auf welche weiterführende Schule geht. Diesen Druck kriegen wir auch mit einer Grundschulzeit von fünf oder sechs Jahren nicht heraus. Deshalb wirkt die Verlängerung der Grundschulzeit in unserem System auf die Eltern wie das künstliche Aufschieben einer längst überfälligen Entscheidung.

sueddeutsche.de: Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Entscheidung über den angestrebten Abschluss?

Fuer den ersten Schultag ueben

Die Grundschule und das Gymnasium sind die Erfolgsmodelle im deutschen Schulsystem.

(Foto: ddp)

Hurrelmann: Idealerweise nie. Als Vision habe ich eine Schule, die den Kindern die gesamte Schulzeit lang alle Optionen offenhält. In dieser Schule würde schrittweise gedacht, es würde bewertet, welche Potentiale in jedem Einzelnen schlummern und es würde in kleinen Leistungsgruppen zusammen gelernt. Jeder Schüler würde so lange gefördert, bis er den für ihn maximal möglichen Abschluss erreicht hat. Es gäbe auch keine stigmatisierenden herkömmlichen Abschlusszeugnisse mehr, sondern ein Zeugnis mit einer gewissen Punktzahl, die besagt, was der Absolvent kann. Eine solche Schule ist in unserem Schulsystem aber völlig unrealistisch.

sueddeutsche.de: Warum?

Hurrelmann: Der Widerstand bei Eltern und Lehrern wäre zu groß. Wir sind durch unser jetziges Schulsystem sozialisiert. Unsere verschiedenen Schulformen sind wie Boxen, in die Kinder sortiert werden, weil noch immer der Glaube herrscht, in homogenen Gruppen lerne es sich am besten. Diesen Irrglauben müssen wir überwinden. Künftig muss die Schule sich auf die Schüler einstellen, die zu ihr kommen, nicht umgekehrt. Es muss erkannt werden, dass Kinder in heterogenen Gruppen effizient lernen, sie stimulieren sich gegenseitig und stellen sich Aufgaben. In dieser Hinsicht steht ein Paradigmenwechsel an. Um den umzusetzen, ist jedoch auch eine neue Lehrerausbildung nötig, eine einheitliche Ausstattung, gleiches Gehalt für alle und regelmäßige Coachings.

"Keine einheitlichen Lebensverhältnisse"

sueddeutsche.de: Welche Schulform in Deutschland kommt Ihrem Ideal am nächsten?

Hurrelmann: Die Idee der Gesamtschule, in der alle Kinder nach der Grundschule vereint sind, ist gut, aber es ist politisch nicht gelungen, diese Schulform durchzusetzen. Anstatt alle anderen Schulen zu ersetzen, wurde die Gesamtschule zu einer zusätzlichen Schule, die noch mehr Verwirrung ins System bringt.

sueddeutsche.de: Wenn das längere gemeinsame Lernen wirklich sinnvoll ist - warum schneidet beispielsweise Brandenburg, wo sechs Jahre Grundschule üblich sind, im Bildungsvergleich so schlecht ab?

Bildungsforscher Hurrelmann: Klaus Hurrelmanns Ideal: Alle Schüler besuchen eine Schule und werden bestmöglich individuell gefördert.

Klaus Hurrelmanns Ideal: Alle Schüler besuchen eine Schule und werden bestmöglich individuell gefördert.

(Foto: AP)

Hurrelmann: Das zeigt, dass auch eine längere gemeinsame Grundschulzeit keine Garantie für die bestmögliche individuelle Förderung bietet. Um das zu gewährleisten, ist eine äußerst einfühlsame pädagogische Arbeit von Seiten der Lehrer notwendig. Und solange am Ende doch irgendwann die Entscheidung über die weitere Schullaufbahn droht, kann kein Lehrer die gemeinsame Grundschulzeit mit der nötigen pädagogischen Lockerheit gestalten.

sueddeutsche.de: In Deutschland verfolgt jedes Bundesland seine eigene Schulpolitik. Ergibt das noch Sinn?

Hurrelmann: Nein, ich glaube, inzwischen ist der im Grundgesetz verankerte Grundsatz der "einheitlichen Lebensverhältnisse" in Deutschland verletzt. Dagegen könnten Eltern klagen. Ein Umzug von einem Bundesland in ein anderes ist beinahe schlimmer als ein Umzug ins Ausland.

sueddeutsche.de: Muss es bundesweite Richtlinien geben?

Hurrelmann: Die Länge der Grundschule, die Form der weiterführenden Schulen und die Abschlüsse müssten in ganz Deutschland einheitlich sein - sonst wird der Föderalismus ad absurdum geführt.

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