Digitale Gesellschaft:Wie das Netz die Fremdheit verstärkt

Utopisten sahen das Internet als großen Gleichmacher - doch was jenseits unseres Kulturkreises passiert, nehmen wir auch online kaum wahr. Das Netz hat unseren Blick auf die Welt nicht geöffnet, sondern verengt.

Ethan Zuckerman

Als Amerikaner vermeidet man ja normalerweise alle Formen von Fußball, bei denen sich nicht ein paar grobschlächtige Hünen gegenseitig über den Haufen rennen. Während der WM dieses Jahr war das eher schwierig.

Internetdebatte Fremdheit

Das Internet ist keine Idylle, in der wir alle gleich sind.

(Foto: iStock)

Benutzte man beispielsweise den Kurznachrichtendienst Twitter, stieß man andauernd auf Themen des Tages wie "Vuvuzela", "Furia Roja" und "Octopus". Eines der wichtigsten Themen war außerdem "Cala Boca Galvao". Ein paar brasilianische Twitter-Nutzer klärten auf, dass es sich dabei um den Aufruf "Rettet den Galvao" handele, und der Galvao ein vom Aussterben bedrohter Vogel sei.

Die Rettung sei nahe, meldeten sie. Lady Gaga hätte eine Single mit dem Titel "Cala Boca Galvao" produziert. Und für jede Twitter-Nachricht, die den Aufruf beinhaltete, wurden angeblich zehn Cents auf ein Spendenkonto überwiesen.

Das war natürlich nur ein äußerst erfolgreicher Streich. Es gab weder eine Lady-Gaga-Single, noch Spenden. In Wahrheit war Galvao Bueno ein Fußballkomentator auf dem brasilianischen Sender Rede Global und "cala a boca" heißt "halt's Maul". Es belegt nur, wie leicht es ist, Leute im Internet zu einer Protestaktion zu bewegen, wenn es reicht, dafür ein paar Mal mit der Maus zu klicken. Es zeigt aber vor allem, dass die Welt auch im Netz viel größer ist, als wir glauben.

Wir können das Internet nicht verstehen

Internetdienste wie Twitter können sich als Falle entpuppen, weil sie uns in sogenannten Filterblasen gefangen halten. Das Internet ist viel zu groß und komplex, um es zu verstehen. Auf dem Videoportal YouTube werden beispielsweise jede Minute 24 Stunden Videomaterial hochgeladen. Um also nur die Videos eines Tages anzusehen, bräuchten wir vier Jahre. Ohne zu schlafen, auf die Toilette oder zur Psychotherapie zu gehen, die wir dann sicherlich dringend bräuchten.

Also machen wir uns ein Bild von der Welt, das dem Bild gleicht, das sich unsere Freunde machen, mit denen uns diese Dienste verbinden. Wenn wir brasilianische Freunde haben, werden wir einen Streich wie "Cala Boca Galvao" schnell durschauen. Sonst eben nicht.

So war das mit dem Internet eigentlich nicht gedacht. 1995 begann der Direktor des MIT Media Lab, Nicholas Negroponte, sein Buch "Total digital" mit der Parabel, wie sich Bits und Atome unterscheiden. Er stellte sich dabei eine Technikkonferenz im Florida der Zukunft vor und zweifelte daran, dass da immer noch Flaschen mit Wasser aus Evian in Frankreich auf dem Tisch stehen. Die Zukunft, so schrieb er, sei nicht, diese schweren Atome zu bewegen und zu verkaufen. Die Zukunft sei die Bewegung von schwerelosen, schnellen Bits.

Negroponte hatte nicht recht. Im Jahr 2010 sind Atome letztlich mobiler als Bits. Es ist wahrscheinlicher, eine Flasche Wasser aus Fiji auf einem amerikanischen Konferenztisch zu finden, als Nachrichten aus Fiji zu bekommen, geschweige denn Filme oder Musik aus Fiji, obwohl es in diesem Lande akute politische Probleme gibt.

Die Infrastrukturen der Globalisierung machen uns glauben, dass die moderne Welt wirklich so flach ist, wie sie der mehrfache Pulitzerpreisträger Thomas Friedman beschrieben hat. Bangalore ist nur ein Katzensprung von London entfernt.

Der Blick geht nicht nach draußen

Doch wenn man nicht die Infrastruktur betrachtet, die Straßen, Flugrouten, Schifffahrtswege und Kabel, sondern die Verkehrsflüsse, wird schnell deutlich, dass manche Teil der Welt viel besser vernetzt sind als andere. London und New York sind sich immer noch näher als Rio und Johannesburg. Besonders deutlich wird das Bild aber, wenn man untersucht, wie sich die Medien mit dem Rest der Welt beschäftigen.

In den siebziger Jahren beschäftigten sich noch 35 bis 40 Prozent einer amerikanischen Nachrichtensendung mit dem Ausland. Heute sind es zwölf bis 15 Prozent. Außerdem ist der Blick auf Nationen nach deren Bruttosozialprodukt gewichtet. Die New York Times berichtet beispielsweise acht mal so viel über Japan wie über Nigeria. In Großbritannien gibt es eine ganz andere Gewichtung. Die BBC hat eine großartige Berichterstattung über ärmere Nationen, die einst zum Kolonialreich gehörten. Berichte über andere Länder sind eher mager.

Digitale Sprachbarrieren

Das Versprechen des Internets war, dass sich der Blick erweitert, weil wir nun beispielsweise kostenlos Zeitungen aus Australien, Indien, Nigeria und Ghana lesen können.

Analysiert man die Daten des Internet-Anzeigenvermarkters Doubleclick für die 50 größten Nachrichtenseiten in 30 Ländern, dann sieht man, dass beispielsweise 95 Prozent des Verkehrs in Großbritannien auf heimische Nachrichtenseiten führt, und in Indien, wo Internetnutzer allgemein weltoffener und wohlhabender sind als ihre Landsleute ohne Netzanschluss, sind es 94 Prozent.

Es sieht also ganz so aus, als ob die Fernsehsender und Zeitungen unserer Eltern und Großeltern ein viel umfassenderes Weltbild vermittelten hätten als das Internet uns.

Nun wird das Internet immer polyglotter. Das heißt aber auch, dass viele Inhalte im Netz in Sprachen veröffentlicht werden, die wir nicht sprechen. Auf diese Inhalte werden wir nicht stoßen, denn das Internet ist so konstruiert, dass es Mehrsprachigkeit ignoriert.

Wenn man beispielsweise das Wort "Apple" in eine Suchmaschine eingibt, wird man vielleicht spanische Seiten angezeigt bekommen, die dieses Wort beinhalten, allerdings keine mit "manzana" oder "ringo".

Nerds und Schmiede

Was wir also brauchen, um ein wirklich weltoffenes Netz zu schaffen, sind Filter, die uns helfen, die schiere Menge an Informationen zu bewältigen, sowie Übersetzer. Beide gibt es schon.

Der neue Browser von Google weiß beispielsweise, in welcher Sprache eine Webseite geschrieben ist, und man kann einstellen, dass alle Seiten automatisch ins Englische übersetzt werden. Das Problem ist - die Übersetzung wird von einer Maschine erstellt. Das funktioniert zwischen Französisch und Englisch erstaunlich gut, zwischen Chinesisch und Englisch grausam schlecht.

Die Filter im Netz sind ähnlich unzulänglich. Das Problem ist, dass wir uns prinzipiell auf zwei Filterfunktionen verlassen. Suchmaschinen können uns sowieso nur zeigen, was wir sehen wollen; unsere Freunde in sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook können uns Dinge zeigen, von denen wir noch nicht wussten, dass wir sie sehen wollen.

Wir brauchen Vermittler

Zusätzlich gibt es Funktionen, die den glücklichen Zufall herbeirechnen, indem sie auswerten, was wir bisher gesucht haben, oder was uns und unsere Freunde bisher interessiert hat. Das Problem ist nur, dass der Mensch ein Herdentier ist, also sehen wir auf Twitter oder Facebook nur das, was die Herde sieht.

Was wir wirklich brauchen, sind Vermittler. Ein gutes Beispiel dafür ist Erik Hersman, der Gründer eines der besten Technikblogs im Netz, Afrigadget. Hersman ist ein amerikanischer Nerd und Chef einer Softwarefirma.

Er ist aber auch ein Afrikaner, der in Kenia zur Schule ging und fließend Suaheli spricht. Er ist der seltene Fall eines Menschen, der sowohl die Mentalität amerikanischer Nerds wie die kenianischer Schmiede begreift, und deswegen eine Brücke zwischen beiden Welten schlagen kann. Wenn wir also eine wirklich offene Welt im Netz wollen, dann müssen wir solche Figuren erkennen, fördern und ihren Einfluss stärken.

Der Autor ist Gründer des Blognetzwerkes Global Voices und forscht am Berkman Center for Internet and Society in Harvard. Der Text beruht auf einem Vortrag auf der Ted-Konferenz in Oxford.

Lesen Sie hierzu Berichte in der Süddeutschen Zeitung.

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