Tragödie auf der Loveparade:Wer trägt die Schuld?

In der Massenpanik von Duisburg sterben 21 Menschen, mehr als 500 werden verletzt - obwohl angeblich alles perfekt organisiert war. Die wichtigsten Fragen nach den Schuldigen, der Verantwortung und Fehlern in der Organisation im Überblick.

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Tote bei Loveparade in Dusiburg

Quelle: dpa

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Wer trägt die Schuld?

Wie nach jeder Katastrophe suchen Öffentlichkeit und Justiz nach den Schuldigen. Wer bei der Loveparade tatsächlich Schuld im strafrechtlichen Sinne auf sich geladen hat, können nur die Gerichte bestimmen, und das wird lange dauern. Sehr klar ist hingegen, wer verantwortlich war für die Sicherheit der Veranstaltung, denn das steht in der nordrhein-westfälischen Sonderbauverordnung. Darin heißt es, dass der Betreiber, in diesem Falle also der Loveparade-Veranstalter (im Bild der Chef Rainer Schaller), "für die Sicherheit der Veranstaltung und die Einhaltung der Vorschriften" verantwortlich ist. Der Betreiber ist es, der die Zusammenarbeit zwischen privaten Ordnern und der Polizei, der Feuerwehr und dem Rettungsdienst gewährleisten muss.

Die Verordnung legt damit eine klare Hierarchie der Verantwortlichkeiten fest: Sie liegt in erster Linie bei dem Privatmann, der die Veranstaltung organisiert und damit - in der Regel - ja auch finanziell davon profitiert. Veranstalter war in Duisburg die Berliner Gesellschaft Lopavent GmbH; deren einziger Gesellschafter ist Rainer Schaller, besser bekannt als Betreiber der Fitnessstudiokette McFit. Der Lopavent GmbH oblag es, ein Sicherheitskonzept aufzustellen und einen Ordnungsdienst einzurichten. So sieht es die Verordnung vor. Das Sicherheitskonzept ist demnach "im Einvernehmen" mit den für Sicherheit und Ordnung zuständigen Behörden aufzustellen, das sind in diesem Falle insbesondere die Gemeindeverwaltung Duisburg, die Polizei und die Feuerwehr.

Einvernehmen bedeutet, dass die Sicherheitsbehörden, und damit auch die Stadt Duisburg, eine Art Vetorecht besitzen. Allerdings war dies im Fall der Duisburger Loveparade kein starrer Prozess, sondern es wurde zwischen Stadt und der Firma Lopavent kräftig gefeilscht, beispielsweise um die Länge der Fluchtwege. Da die Loveparade vom Oberbürgermeister politisch gewünscht war, mussten Beamte offenbar auch einige ihrer Bedenken zurückziehen. Auch hochrangige Polizeibeamte hatten sich aus Sorge um die Sicherheit vehement gegen die Veranstaltung ausgesprochen.

Damit steht nun die Frage im Mittelpunkt, ob die Stadt die Loveparade überhaupt hätte genehmigen dürfen. Ist die Veranstaltung aber genehmigt, dann liegt die Verantwortung für die Sicherheit erst einmal wieder beim Veranstalter. Sein privater Ordnungsdienst muss laut der Sonderbauverordnung zum Beispiel die Ein- und Ausgänge kontrollieren, ebenso die Einhaltung der maximal zulässigen Besucherzahl.

Tote bei Loveparade - Adolf Sauerland

Quelle: dpa

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Haben die Behörden leichtfertig genehmigt?

Leichtfertig dürfte niemand ein solches Mega-Event genehmigt haben, auch wenn es im Rückblick so aussehen mag. Im Gegenteil: Im Vorfeld wurden die Stimmen in der Stadt immer lauter, die gewarnt und kritisiert haben; der politische Streit, der sich an der Genehmigung entzündete, hat bis kurz vor Beginn der Veranstaltung angedauert. Nur: Das macht es nicht besser. Denn die Stadtverwaltung stand unter Rechtfertigungsdruck, aber sie wollte offenbar nicht diskutieren.

Als die SPD zu Jahresanfang im Rat kritische Fragen stellte, hieß es, man habe alles im Griff. Als die Polizei massive Bedenken äußerte, hieß es, alles sei in Ordnung. Offenbar haben politische Gründe - die Sehnsucht nach einem Imagegewinn für die Stadt, die Angst vor einem Prestigeverlust der Verantwortlichen - wie auch Überschätzung und Skrupellosigkeit den Ausschlag für eine Entscheidung pro Loveparade gegeben. Vielleicht führt der stark unter Beschuss stehende Oberbürgermeister Adolf Sauerland (im Bild) deshalb die Katastrophe auf "individuelle Schwächen" zurück.

In den vergangenen Tagen häuften sich die Erkenntnisse darüber, dass verzweifelte Polizeibeamte und Feuerwehrleute, aber auch andere Ortskundige vergeblich darauf hingewiesen haben, dass das Gelände am ehemaligen Güterbahnhof zu klein sei. Der Tunnel zum Gelände als einziger Zugang sei eine Todesfalle und die Umzäunung des Geländes wie von Teilen der Anmarschwege eine Todsünde. Auch seien Zu- und Abflusswege zu beengt. Aber was nicht passte, wurde offenbar passend gemacht. So sagte ein Gruppenführer der Kölner Polizei, der bei mehreren Ortsbegehungen dabei war, gegenüber der Agentur ddp, man sei sich "einig gewesen, dass das geplante Konzept im Chaos enden wird". Im Rathaus aber habe man auf dem Standpunkt gestanden: "Die Loveparade muss funktionieren."

Die WAZ berichtet, schon vier Wochen vor der Parade habe auch das Baudezernat massive Einwände erhoben. Ein Protokoll vom 18. Juni dokumentiert demnach einen Streit zwischen Stadt und der Lopavent GmbH über die Breite der Fluchtwege; der Veranstalter drängte darauf, die Auflagen zu mindern, der Baudezernent lehnte deshalb jede Verantwortung ab, der Ordnungsdezernent forderte das Bauamt auf, "konstruktiv mitzuwirken" und merkte an, der OB "wünsche die Veranstaltung", daher müsse eine Lösung gefunden werden. OB Sauerland sagt heute, ihm seien keine Warnungen bekannt gewesen.

Mindestens 15 Tote bei Massenpanik auf Loveparade

Quelle: ag.ddp

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Warum wurden Warnungen ignoriert?

Die Luftaufnahmen des Veranstaltungsgeländes lassen schon nichts Gutes ahnen: Der Schauplatz der Loveparade liegt eingezwängt zwischen der Autobahn und diversen Bahngleisen. Man betritt und verlässt das Gelände über eine Rampe, die wiederum nur über Tunnels zu erreichen ist. Etlichen Sicherheitsexperten war sehr unwohl bei der Vorstellung, in dieser Enge ein Fest mit Hunderttausenden Partygästen zu veranstalten, von denen erfahrungsgemäß viele unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol stehen.

Ein Jahr vor Duisburg hatte die Polizei bereits erhebliche Bedenken für die Stadt Bochum geäußert, dort wurde die Party dann auch abgesagt. Der Duisburger Polizeipräsident Rolf Cebin hatte schon lange vor der Katastrophe in seiner Stadt "eklatante Sicherheitsmängel" erkannt. Aber wer wollte das schon hören? Der örtliche Bundestagsabgeordnete Thomas Mahlberg schrieb im Februar 2009 an den damaligen Innenminister Ingo Wolf und klagte darüber, dass Cebin seiner Stadt einen Imageschaden zufüge. Dieser "Eklat" veranlasse ihn zu der Bitte, "Duisburg von einer schweren Bürde zu befreien und den personellen Neuanfang im Polizeipräsidium Duisburg zu wagen". Cebin ging im Mai dieses Jahres in den Ruhestand.

Auch die Deutsche Polizeigewerkschaft hatte Duisburg als "ungeeignet für die Loveparade" bezeichnet. Aber nicht nur in der Stadt, sondern im Bundesland Nordrhein-Westfalen insgesamt war die Loveparade politisch erwünscht. Das Projekt Ruhr 2010 soll die Region derzeit als Europäische Kulturhauptstadt darstellen, und auch der Jugend sollte in diesem Festjahr etwas geboten werden. Fritz Pleitgen, der Chef von "Ruhr 2010", hatte die Stadt Duisburg denn auch immer wieder ermutigt. Die Loveparade hatte in früheren Jahren bereits in Essen und Dortmund stattgefunden, und nach der Absage Bochums im Jahr 2009 wollte sich die Region keine weitere Blöße geben.

Tote bei Loveparade 2010 in Duisburg

Quelle: dpa

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Hat die Polizei Fehler gemacht?

Rainer Schaller, der Geschäftsführer der Loveparade-Gesellschaft Lopavent, hat nach anfänglichem Schweigen versucht, einen Teil der Verantwortung auf die Polizei abzuschieben. Er spricht von einer angeblichen Anweisung der Einsatzleitung der Polizei, den Hauptstrom der Technofans unkontrolliert und ungebremst in den Tunnel zum Veranstaltungsgelände fließen zu lassen. Dafür gebe es mehrere Zeugen. So kam es dann an der Rampe zum Partygelände, die nur über die Tunnels zu erreichen war, zur verhängnisvollen Enge. Warum soll die Polizei diese Anweisung gegeben haben? Schaller sagt: "Ich weiß es nicht."

Die ermittelnde Polizei in Köln hat erklärt, es wäre gut, "wenn sich Herr Schaller nicht in Spekulationen verlieren würde". Dass die Schleusen zu einer Großveranstaltung einfach geöffnet werden, ist jedenfalls in der einschlägigen "Sonderbauverordnung" nicht vorgesehen. Dort heißt es: "Vor den Eingängen sind Geländer so anzuordnen, dass Besucher nur einzeln und hintereinander Einlass finden. Es sind Einrichtungen für Zugangskontrollen sowie für die Durchsuchung von Personen vorzusehen".

Lovaparade 2010

Quelle: ag.ddp

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Wie viele Personen waren auf dem Gelände?

Die von Interessenvertretern kolportierten Zahlen gehen weit auseinander. Vor der Katastrophe sprach der Veranstalter von 1,4 Millionen Menschen, die bis Samstagnachmittag in die Ruhrstadt gekommen seien, um die Loveparade zu besuchen. Nach der Katastrophe erklärte die Polizei, die meisten Besucher seien, wie erwartet, mit der Bahn angereist. Und die Bahn habe zwischen 9 und 14 Uhr an diesem Samstag allenfalls 105.000 Menschen zum Duisburger Hauptbahnhof gebracht.

Über den ganzen Tag verteilt seien auf dem Veranstaltungsgelände und auf dem Weg dorthin höchstens 300.000 bis 400.000 Menschen unterwegs gewesen. 1,4 Millionen Besucher oder 300.000 Besucher - entweder übertrieb der Veranstalter am Samstag zunächst aus Werbegründen maßlos. Oder die Polizei rechnet die Zahlen nach dem Desaster nun knallhart herunter. Denn bei der Schuldfrage, die jetzt von der Staatsanwaltschaft geklärt werden soll, kann am Ende auch die Zahl der Besucher ins Gewicht fallen.

Das Duisburger Veranstaltungsgelände, so viel immerhin steht fest, umfasst rund 230 000 Quadratmeter, von denen etwa die Hälfte wegen Bebauung oder wegen Sicherheitsvorkehrungen nicht nutzbar ist. In diversen Unterlagen der Stadt waren für die Loveparade-Veranstaltung unterschiedliche Höchstgrenzen für die Besucherzahl auf dem Bahnhofsgelände angegeben worden. Im Schnitt lagen diese Zahlen zwischen 220.000 und 250.000 Besuchern.

Bei ihren Ermittlungen prüfen die Duisburger Strafverfolger derzeit auch, warum einerseits zum Unglückszeitpunkt auf dem Gelände ganz offensichtlich noch eine Menge Platz war, während sich gleichzeitig in dem Tunnel, der zum Gelände führt, die Massen stauten, bis es dann zur Panik kam.

Trauer nach Katastrophe bei der Loveparade

Quelle: ag.ddp

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Wer entschädigt die Verletzten oder die Hinterbliebenen?

Bei einer Katastrophe mit 20 Toten und 510 Verletzten stellt sich nach dem ersten Schock schnell die Frage nach den versicherungsrechtlichen Konsequenzen. Klar ist, dass der Veranstalter - also die Lopavent GmbH - für die Organisation verantwortlich und damit auch schadensersatzpflichtig ist. Die Lopavent GmbH mit ihrem alleinigen Gesellschafter Rainer Schaller hat sich mit 7,5 Millionen Euro für Personenschäden und mit 2,5 Millionen Euro für Sachschäden bei der Axa-Versicherung haftpflichtversichert.

Angesichts der hohen Opferzahl wird diese Summe aber bei weitem nicht ausreichen. Sollte der Veranstalter der alleinige Verursacher der Katastrophe sein, würde die Lopavent GmbH mit ihrem Stammkapital haften, also wohl mit der Summe von 25.000 Euro. Der Gesellschafter Schaller müsste über diese Einlage hinaus nicht mit seinem Privatvermögen einspringen. Es sei denn, er hätte direkt auf das Unglück Einfluss genommen und könnte persönlich verantwortlich gemacht werden.

Trifft dagegen die Stadt Duisburg eine Mitschuld, wird auch sie bei der Entschädigung herangezogen werden, allerdings nur bei der Summe, die über 7,5 Millionen (bzw. 2,5 Millionen) hinausgeht. Die Stadt wiederum ist über den Kommunalen Schadensausgleich westdeutscher Städte abgesichert. Damit werden Risiken auf viele Kommunen verteilt.

Die Versicherung kann schon vor einer Gerichtsentscheidung über die Schuld Gelder auszahlen. Opfervertreter fordern nun, dass auch vor einem möglichen Prozess ein Fonds für die Entschädigungen bereitgestellt wird.

Tote bei Loveparade 2010 in Duisburg

Quelle: dpa

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Warum lassen sich Panik und Staus nicht wirklich vorhersagen?

Forscher, das liegt in der Natur ihrer Arbeit, wollen bestimmte Phänomene verstehen und wenn möglich Vorhersagen machen. Dafür entwickeln sie Modelle - Modelle des Klimas, des Wetters, von Aktienkursen oder auch Staus, die sie dann im Computer berechnen. Michael Schreckenberg, der Duisburger Stau- und Panikforscher, hatte vor der Loveparade Simulationen über das Verhalten der Menschenmengen gemacht, die durch den Tunnel strömen würden. Nach dem Desaster musste er zugeben, dass er wohl nicht alle Aspekte bedacht hatte. Wenn er von "Einzelpersonen, die Gewagtes beginnen", oder von "Menschen, die auch eine gewisse Mitschuld tragen", spricht, klingt das erst einmal zynisch. Es trifft aber den Kern des Problems solcher Modelle und Vorhersagen.

Denn bei Staus und Menschenmengen hat man es mit zwei prinzipiellen Schwierigkeiten zu tun. Zum einen handelt es sich um "nichtlineare Systeme". Das bedeutet, dass auch sehr kleine Ursachen enorm große Wirkungen haben können. Im Extremfall verhalten sich solche Systeme "chaotisch", was bedeutet, dass sich ihr Verhalten im Grunde gar nicht vorhersagen lässt. Schon ganz simple Systeme wie ein Pendel, das unregelmäßig angestoßen wird, verhalten sich chaotisch.

Zum anderen bestehen alle Ansammlungen von Menschen, ob sie im Auto sitzen oder zu einer Loveparade gehen, aus Individuen. Anders als die Atome in einem Gas folgen Menschen nicht festgelegten physikalischen Gesetzen. Sie klettern, wie in Duisburg geschehen, auf Zäune oder Treppen oder machen etwas anderes Überraschendes - und die Vorhersage ist obsolet. Man mag Menschenmengen mit Modellen beschreiben, mag sie simulieren - doch wie sie sich letztlich verhalten, lässt sich nicht zuverlässig vorhersagen. "Allenfalls Wahrscheinlichkeiten lassen sich berechnen", sagt Theo Geisel, Direktor am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Weil man bei solchen Systemen wie Staus nie die genauen Anfangsbedingungen und die Parameter kenne, die einen Einfluss haben, sei eine Vorhersage immer nur ungenau, sagt der Spezialist für Chaostheorie.

Und so bleibt alles, was Theoretische Physiker wie Michael Schreckenberg jetzt sagen, vor allem eins: sehr theoretisch.

© SZ vom 28.07.10/ebc
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