Konflikte:Türkei lässt Zehntausende Migranten Richtung EU durch

Konflikte
Am türkisch-griechischen Grenzübergang in Pazarkule sind tausende weitere Flüchtlinge mit dem Ziel EU eingetroffen. Foto: Ahmed Deeb/dpa (Foto: dpa)

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Athen (dpa) - Nach der Ankündigung der Türkei, die Grenzen zur EU zu öffnen, versuchen Tausende Migranten, nach Westeuropa zu kommen - das führt auch in Deutschland wieder zu Diskussionen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex setzte die Alarmstufe für alle EU-Grenzen zur Türkei auf "hoch".

Zugleich verstärkte Griechenland seine Einheiten entlang der Grenze zur Türkei weiter. Die Regierung in Athen warf der Türkei vor, Migranten mit falschen Informationen dazu zu bewegen, nach Griechenland und damit in die EU zu kommen. Nach UN-Angaben harren rund 13.000 Migranten auf der türkischen Seite bei Kälte aus.

EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas forderte eine baldige Sondersitzung der EU-Innenminister. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Samstag gesagt, die Grenzen zur EU seien für Migranten geöffnet.

Die griechischen Sicherheitsbehörden befürchteten, dass Tausende Migranten, die seit Freitag auf der türkischen Seite der Grenze campieren, massenweise versuchen würden, nach Griechenland zu kommen. Dies ist nach Berichten des Staatsrundfunks ERT bislang nicht geschehen. Auch an der bulgarischen Grenze blieb es ruhig.

Am Sonntag setzte die griechische Polizei schwere Wasserwerfer und Tränengas ein, um die Migranten am Übertritt zu hindern. Die Migranten hatten laut Medienberichten zuvor Steine und andere Gegenstände auf die Bereitschaftspolizei geschleudert. Ein Polizist soll nach Berichten des griechischen Rundfunks verletzt worden sein.

Die UN-Organisation für Migration (IOM) schrieb auf Twitter, den Menschen auf der türkischen Seite der Grenze stehe eine weitere kalte Nacht mit Frost bevor. Unter ihnen sollen auch viele Kinder sein.

Unionsfraktionsvize Thorsten Frei (CDU) sagte "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" (Montag): "Eine Situation wie im Herbst 2015 darf sich nicht wiederholen. Das war unser Versprechen an die deutsche Bevölkerung, und wir müssen alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um Wort zu halten." In letzter Konsequenz heiße das in aller Klarheit auch: lückenlose Kontrollen und Zurückweisungen an der deutschen Grenze.

AfD-Chef Jörg Meuthen twitterte am Sonntag: "Wenn die türkischen Tore nun offen sind, müssen wir unsere schließen - und zwar SOFORT." Das Signal an alle Migranten müsse lauten, dass in Deutschland niemand mehr reinkomme, der schon irgendwo in Sicherheit gewesen sei.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) telefonierte wegen der angespannten Situation am Sonntag mit dem bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow. Thema sei die Verschärfung der Lage gewesen, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit. Merkel und Borissow stimmten überein, dass in der gegebenen Situation zeitnahe politische Gespräche mit der Türkei nötig seien.

Der griechische Verteidigungsminister Nikos Panagiotopoulos warf der Türkei vor, den Zustrom von Migranten an der gemeinsamen Grenze organisiert zu haben. Aus Regierungskreisen in Athen hieß es, der türkische Präsident instrumentalisiere die Millionen Migranten in seinem Land, um die EU zu zwingen, ihm mehr Geld zu zahlen, damit er seine Politik und Militäraktion in Syrien fortsetzen könne.

Die Türkei hat rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. In einem Flüchtlingspakt mit der EU von 2016 hat die Türkei eigentlich zugesagt, gegen illegale Migration vorzugehen. Das Abkommen sieht zudem vor, dass die EU alle Flüchtlinge und Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann. Im Gegenzug nimmt die EU regulär Syrer aus der Türkei auf. Ankara erhält zudem finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge im Land. Noch am Freitag hatte die EU deutlich gemacht, dass sie von der Türkei erwarte, dass sie die Vereinbarung einhalte.

Der türkische Innenminister Süleyman Soylu schrieb am Sonntag auf Twitter, bis zum frühen Abend hätten mehr als 100.000 Migranten von der türkischen Provinz Edirne aus die Grenze zur EU passiert. Der türkische Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun schrieb auf Twitter, syrische Flüchtlinge seien nicht dazu gezwungen, die Türkei zu verlassen. Sie stünden nach wie vor unter "temporärem Schutz".

Nach griechischen Regierungsangaben wurden die Patrouillen in den Meerengen zwischen den griechischen Inseln und der türkischen Ägäisküste verstärkt. Die stürmischen Winde der vergangenen Tage haben nachgelassen, die Regierung in Athen befürchtet nun einen neuen Migrantenzustrom, diesmal über die Ägäis.

Am Sonntagvormittag kamen nach Berichten griechischer Fernsehsender gut 400 Migranten auf der Insel Lesbos an. "Mehr Boote sind unterwegs. Die türkische Küstenwache stoppt sie nicht", sagte der Deutschen Presse-Agentur ein Offizier der Küstenwache am Sonntag.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock schlug eine Kontingentlösung zur Aufnahme von Migranten von der türkisch-griechischen Grenze vor, an der sich auch Deutschland beteiligen soll. Die EU sei in der Pflicht, Griechenland bei der Bewältigung der Lage mit allen Mitteln zu unterstützen - finanziell, personell, mit Hilfsgütern und Material, forderte Baerbock in der "Welt". "Wir können nicht weiter so tun, als ginge uns das nichts an."

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl forderte am Sonntag "eine an den Grundsätzen von Solidarität und Humanität orientierte europäische Lösung, die die Rechtsgrundsätze Europas beachtet". Wasserwerfer und Gewalt gegenüber Schutzsuchenden seien inakzeptabel.

EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas forderte eine baldige Sondersitzung der EU-Innenminister. Eine entsprechende Bitte habe er an die Regierung in Kroatien gerichtet, die derzeit die EU-Präsidentschaft innehat, schrieb Schinas auf Twitter. Zudem berate er weiter mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und dem griechischen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis über die Situation, fügte der EU-Vizekommissionspräsident hinzu. Schinas wird am Montag eigenen Worten zufolge in Berlin sein.

Frontex hat nach eigenen Angaben knapp 400 Mitarbeiter auf den griechischen Inseln und 60 weitere in Bulgarien stationiert. Ein kleines Kontingent halte sich auf griechischer Seite an der Grenze zur Türkei auf. Es werde außerdem die Lage auf Zypern beobachtet.

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