Landtag - Kiel:Experten mahnen zur Vorsicht in der Pandemie

Corona
Die Abgeordneten des schleswig-holsteinischen Landtags tagen im Plenarsaal. Foto: Axel Heimken/dpa/Archivbild (Foto: dpa)

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Kiel (dpa/lno) - Müssen die strengen Kontaktregeln bis in den Herbst verlängert werden? Die Landesvorsitzende der Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst, Alexandra Barth, hält dies für nötig, wie sie am Freitag im Landtag verdeutlichte. In der mehrstündigen Anhörung, zu der sich die meisten Experten per Video zuschalteten, gab es viel Zustimmung zum Stufenplan der Landesregierung für Öffnungsschritte im Lockdown, aber auch Kritik und Forderungen nach Korrekturen.

Für Barth wäre es zu riskant, bei unter 35 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen wieder Treffen von bis zu zehn Personen aus mehreren Haushalten zu erlauben. Dies sieht der sogenannte Perspektivplan der Landesregierung vor. Das sei im Herbst probiert worden, sagte Barth und verwies auf dann gestiegene Infektionszahlen. "Deshalb wäre mein Appell an Sie, die privaten Beschränkungen bis in den Herbst streng aufrechtzuerhalten, gerne mit dieser Regelung "fünf Personen aus zwei Haushalten"". Derzeit darf ein Haushalt nur eine weitere Person treffen.

Der Einzelhandel könnte aus Barths Sicht jetzt wieder öffnen. Er sei wie die Gastronomie kein besonderes Risikofeld, die Betriebe hätten überwiegend sehr gute Hygienekonzepte. Das große Risikofeld sei der private Raum, "wo keiner guckt und wo es keine Hygienekonzepte gibt".

Anders auf Kontakte blickte die Klinikdirektorin für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum, Prof. Kamila Jauch-Chara. Es gebe große Vereinsamungsprobleme und psychische Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Singles. Die Kontaktmöglichkeit sollten auf zwei Haushalte ausgeweitet, mehr Sport erlaubt werden. Menschen seien nicht glücklich mit nur einem Kontakt. "Wir sind soziale Wesen."

Der Virologe Helmut Fickenscher sieht für den Sommer gute Chancen auf mehr Kontakte. Kritisch äußerte sich der Leiter der Infektionsmedizin an der Uni Kiel über die verfügbaren Schnelltests. Deren Qualität sei mäßig gut. "Das ist nichts für Laien", sagte er unter Hinweis auf den tiefen Nasenabstrich. Fickenscher nannte Berichte übertrieben, wonach Virus-Varianten sehr viel ansteckender seien als das Original.

"Alle vereinbarten Maßnahmen sind auch geeignet für Mutanten", sagte der Ärztliche Direktor der LungenClinic Großhansdorf, Klaus Rabe. Er betonte die Kooperation zwischen Kliniken: "Wir sind zu keinem Zeitpunkt vor die Wand gefahren, weil wir uns untereinander geholfen haben". Rabe warnte davor zu glauben, eine Null-Inzidenz wäre erreichbar. Die Öffnung der Schulen beinhalte ein Restrisiko, "das wir, glaube ich, tragen müssen". Mit rund 49 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen hat Schleswig-Holstein aktuell die drittniedrigste Inzidenz in Deutschland.

Die ungleiche Lastenverteilung in der Krise betonte der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr. Einige Branchen seien am Limit, andere wie Medizintechnik in ungeahntem Aufschwung. Schleswig-Holstein verliere in der Pandemie monatlich eine halbe Milliarde Euro an Wertschöpfung. Wichtig sei es, so schnell wie möglich junge Menschen zu entlasten. Längerer Unterrichtsausfall bedeute Jahr für Jahr spürbare Einkommensverluste. Bei Öffnungen von Branchen seien gerechte Entscheidungen schwierig, weil Fakten dazu fehlten, wo sich Infektionen tatsächlich ereignen.

Der Krisenforscher Frank Roselieb warnte die Politik davor, kurzatmig Spielregeln zu ändern, zum Beispiel bei Inzidenzwerten. Insgesamt hätten die Menschen gelernt, mit der Pandemie zu leben, auch wenn manche langsam den Kompass verlören.

Eher zurückhaltend wurden Perspektiven für den Tourismus beleuchtet, weil dieser speziell durch Rückkehrer aus dem Ausland stark zu steigenden Infektionszahlen beigetragen habe. Eine Ferienwohnung auf einer Insel zu mieten, sei aber etwas anderes. Der Tagestourismus habe in Schleswig-Holstein sehr gut funktioniert, meinte Roselieb.

Eine Öffnung der Schulen auch über den Unterricht hinaus forderte die Kinder- und Jugendforscherin Gunda Voigts. Sie verlangte auch mehr Freizeit- und Sportmöglichkeiten für junge Menschen. Diese werde auch vom Regierungsplan zu wenig berücksichtigt. Das Wohl von Kindern und Jugendlichen müsse generell Vorrang haben. "Es ist zu befürchten, dass die Anzahl der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen pandemiebedingt steigen wird", erklärte die Landesvorsitzende des Kinderschutzbundes, Irene Johns.

Der Stufenplan der Regierung sei rechtlich nicht verbindlich, aber richtig, sagte die Juristin Prof. Kerstin von der Decken. Sie lobte den Plan aus rechtlicher Sicht und riet, den Plan noch stärker am Bundesinfektionsschutzgesetz auszurichten und zu prüfen, ob die einzelnen Stufen mit der Rechtsprechung übereinstimmen.

Angesichts der Dauer der Pandemie und der massiven Einschränkung von Grundrechten betonte Verwaltungsgerichtspräsident Achim Theis die Schlüsselrolle des Parlaments. Bisher berät der Landtag im Nachhinein über die Entscheidungen von Bund und Ländern.

Bei einer Öffnung von Wirtschaft und Gesellschaft müsse der Gesundheitsschutz an erster Stelle stehen, erklärte der DGB Nord. Er fordert eine 1000-Euro-Zahlung für Geringverdiener in Kurzarbeit.

© dpa-infocom, dpa:210218-99-498968/6

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