Experimentelle Archäologie:Verschlissen im Römeralltag

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Wie Ressourcenverschwendung zum Untergang des Weströmischen Reiches beigetragen hat und wie Experimente helfen, die Vergangenheit zu verstehen. Ein Gespräch mit Althistoriker Josef Löffl.

Barbara Galaktionow

Josef Löffl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg. Vor etwa einem Jahr führte der Althistoriker mit mehreren Kommilitonen ein spektakuläres Experiment durch: In Tunika und Kettenhemd, mit Schilden, Lanzen und anderen nach antiken Angaben erstellten Gegenständen marschierten die elf Doktoranden und Magistranden im Sommer 2008 vier Wochen lang entlang der römischen Limesstraße von Niederösterreich nach Regensburg - und erhielten dabei einen Eindruck davon, mit welchen Alltagsproblemen römische Legionäre im 3. Jahrhundert nach Christus zu kämpfen hatten. Doch die Erkenntnisse, die die Wissenschaftler aus dem Marsch zogen, weisen über den persönlichen Bereich weit hinaus. Josef Löffl hat sich mit den Implikationen für die antike Wirtschaft befasst - und dazu vor kurzem seine Doktorarbeit eingereicht.

Der Regensburger Althistoriker Josef Löffl im Sommer 2008 in voller Römermontur mit Kettenhemd und Schild auf dem Rücken. (Foto: Foto: Simon Wunderlich)

sueddeutsche.de: Herr Löffl, Ihr Römermarsch war eine ziemlich aufsehenerregende Aktion. Doch das Projekt war kein Historienspektakel - welches wissenschaftliche Anliegen steckte dahinter?

Josef Löffl: Wir wollten klären, welchen Ressourcenbedarf die römische Armee bei einer Alltagsangelegenheit wie einer Truppenverlegung hat. Wie viel Leder, Eisen, Holz, Wasser oder Nahrungsmittel verbraucht die Armee in Europa? In welcher Zeit gehen Kleidung und Ausrüstung kaputt? Oder wie kann man diese Dinge möglichst lang am Leben erhalten? Mit einer Größe zwischen 250.000 und 300.000 Mann war die römische Armee über Jahrhunderte hinweg der größte Arbeitgeber im gesamten Mittelmeerraum. Wir wollten wissen, welche Ressourcen von diesem Moloch eigentlich verschwendet worden sind.

sueddeutsche.de: Warum ist dafür ein solches Experiment notwendig? Finden sich in antiken Quellen keine Angaben über den Verbrauch von Rohstoffen und Materialien?

Löffl: Die antike Literatur beschäftigt sich mit solchen Dingen nur am Rande. Wir haben Hinweise darauf, dass es spezielle Handbücher zu jedem dieser Themenbereiche gegeben hat - aber leider sind diese zum Großteil nicht erhalten. Darüberhinaus haben wir den dinglichen Befund, also die Objekte, die Archäologen ausgraben. Und über den Nachbau dieser Artefakte kann man einen Eindruck davon gewinnen, wie die Römer mit Ressourcen umgegangen sind. Denn wir besitzen zu diesem Aspekt im Grunde nur grobe Schätzungen. Ohne solche praktischen Versuche wie den unsrigen wüssten wir fast nichts über die konkreten Verbrauchsprozesse bei den Römern.

sueddeutsche.de: Sie haben Ihr Experiment im 3. Jahrhundert nach Christus angesiedelt und sind entlang der römischen Limesstraße vom alten Römerort Carnuntum in Niederösterreich zum Standort des früheren Legionslagers Castra Regina marschiert - nämlich Regensburg. Warum haben Sie gerade diese Zeit und diese Route gewählt?

Löffl: Wir haben eine Einheit konstruiert, die für unsere Region typisch war, in einer Zeit, in der die römische Armee in diesem Raum aktiv war. Zudem haben wir eine Strecke gewählt, die wahrscheinlich auch von Angehörigen dieser Truppe regelmäßig zurückgelegt worden ist. Bei den römischen Legionen hat man vielleicht die Vorstellung, dass da 5000 Mann jeden Tag aufeinandersitzen. Aber das stimmt nicht - die Soldaten waren ständig in Bewegung.

Bei unserem Marsch waren wir elf Mann - das ist im Prinzip eine etwas erweiterte Zeltgemeinschaft. Eine Zeltgemeinschaft, das sind die acht Männer, die 20 Jahre lang jeden Tag miteinander verbringen. Wir wollten einfach herausfinden, wie das kleinste Glied in diesem ganzen großen System funktioniert. Eine 500-Mann-Armee hätten wir mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, nicht auf die Beine stellen können.

sueddeutsche.de: Welche Erkenntnisse haben Sie aus Ihrem Römermarsch gewonnen?

Löffl: Wir müssen umdenken. Wir müssen genau den Dingen mehr Aufmerksamkeit widmen, die wir heute eben nicht in Museen in Europa finden, also Leder, Holz, dem gesamten organischen Material. Denn bei unserem Experiment ist zutage getreten, dass selbst bei einer alltäglichen Aktion der Verschleiß an diesen Materialien enorm war - und zwar so enorm, dass das den Verbrauch anderer Ressourcen wiederum mit Sicherheit extrem beeinflusst hat.

Ein Beispiel: Die Schuhe der römischen Legionäre hatten auf der Sohle um die 120 bis 200 Eisennägel. Diese wertvolle Ressource verschwindet einfach, die wird weggelaufen. Und um dieses Eisen zu fertigen, braucht man erst einmal Eisenerz und enorme Mengen an Holzkohle. Das heißt, ganze Wälder dürften jährlich dem Schuhwerk der Armee zum Opfer gefallen sein. Unsere Erkenntnisse über den Verschleiß alltäglicher Dinge stimmen mit naturwissenschaftlichen Befunden aus Bohrkernuntersuchungen überein. Die besagen, dass die Römer bis zur Zeit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert die größten Ressourcenverschwender waren.

Archäologie als Experiment
:Römer unterwegs

In Tunika und Kettenhemd, mit Schilden und Lanzen bewaffnet zogen im Sommer 2008 Althistoriker der Uni Regensburg durch die Lande - kein reiner Spaß.

Barbara Galaktionow

sueddeutsche.de: Dank Ihres Experiments kann man also jetzt genauer sagen, warum und wofür Rohstoffe und Materialien bei den Römern draufgingen?

Ressourcen einfach weggelaufen: Florian Himmler beschlägt während des Marsches 2008 einen Schuh neu. (Foto: Foto: ddp)

Löffl: Genau. Denn darüber machen die Quellen leider keine Angabe. Wir haben zum Teil einzigartige Quellen wie die Vindolanda Tablets aus Britannien, aus denen abgeleitet werden kann, dass die Einheit XY alljährlich eine bestimme Menge an Sehnen und Knochen etwa von Ochsen verbraucht. Aber wir wissen nicht, wofür dieses Material benötigt wurde. Wenn man dann anfängt auszuprobieren, stellt man fest: Ach, diese Dinge konnten etwa dazu verwendet werden, um daraus Knochenleim oder Sehnen für Katapulte zu fertigen. Mit dem Kleber haben die Römer dann unter anderem ihre Militärschilde bauen können.

Aspekte dieser Art kann man nur durch gezieltes Experimentieren erfahren. Zudem wird deutlich, dass die Römer viele Dinge unter dem Ressourcenaspekt gesehen haben - und das ist eigentlich sehr modern. Sie haben also Probleme gehabt, die auch uns nicht fremd sind. Für uns ist es Erdöl, für die Römer waren es Holz und Getreide. Sie haben sich ähnlichen Schwierigkeiten gegenübergesehen wie wir - und zum Schluss haben diese Probleme ohne Zweifel zum Untergang des Weströmischen Reiches beigetragen.

sueddeutsche.de: Experimentelle Archäologie ist in Deutschland keine gängige Forschungsmethode. Wie sind Sie darauf gekommen, auf diese Weise vorzugehen?

Löffl: Unser Lehrstuhl ist spezialisiert auf antike Wirtschaftsgeschichte. Und wenn man sich tagtäglich mit solchen Sachen befasst, dann stellt man sich die ganze Zeit Fragen in der Art: Wo geht das ganze Zeug hin? Und irgendwann bleibt einem gar keine andere Wahl mehr als das auszuprobieren. Der Gedanke des Experimentierens ist in den sechziger und siebziger Jahren in England entstanden. In Deutschland wird die Methode seit den achtziger Jahren angewendet - allerdings zunächst im außeruniversitären Bereich. Im Jahr 2003 haben wir an der Universität Regensburg eine spätrömische Galeere nachgebaut. 2004 habe ich als Student eine Alpenüberquerung in der Ausrüstung römischer Legionäre durchgeführt - und 2008 das Donau-Limes-Projekt.

sueddeutsche.de: Die Resonanz in den Medien ist dabei ja sehr gut gewesen. Was sagen denn die Althistoriker?

Löffl: Als wir unsere ersten Projekte gestartet haben, gab es Kontroversen - doch mittlerweile ist die Methode anerkannt. Ein wichtiges Indiz dafür ist die Tatsache, dass meine Forschungsergebnisse zu dem Römermarsch vom vergangenen Jahr von der Bayerischen Elitestiftung als einziges geisteswissenschaftliches Projekt mit einem Nachwuchsforschungspreis ausgezeichnet wurden. Archäologische Experimente sind allerdings mit einem großen Risiko verbunden. Denn solch ein Projekt zieht eine unglaubliche Medienaufmerksamkeit auf sich, die für das Orchideenfach Alte Geschichte eher untypisch ist. Wenn das schiefgeht, ist man blamiert bis auf die Knochen.

sueddeutsche.de: Der Marsch war sehr kräftezehrend: Sie sind mitten im Hochsommer mit 35 Kilo Gepäck vier Wochen lang täglich bis zu 35 Kilometer marschiert. Ihre Ernährung war spartanisch, die Waschmöglichkeiten begrenzt. Planen Sie trotzdem neue Experimente?

Löffl: Oh ja. Als Nächstes wollen wir zusammen mit österreichischen Kollegen die Ernährung von Profisportlern in der Antike untersuchen - im Selbstversuch. Das wird nächstes Jahr stattfinden. Und dann habe ich den großen Traum, eine ähnliche Untersuchung, wie wir sie zur römischen Armee gemacht haben, zu den Armeen Griechenlands zu realisieren - und zwar aus der Zeit Alexanders des Großen. Der Marsch 2008 war sicher eine Herausforderung. Allein schafft so etwas keiner. Aber in der richtigen Gruppe ist das traumhaft. Denn das war mit Abstand das außergewöhnlichste Projekt, was wir alle in unserem Leben gemacht haben - und vielleicht auch je machen werden.

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