Krieg in der Ukraine:Zwischen den Zeilen des Minsker Abkommens

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Die Kämpfe gehen weiter - trotz der in Minsk geschlossenen Vereinbarung. Auch in der Separatisten-Stellung bei Debalzewe. (Foto: AP)
  • Das Minsker Abkommen ähnelt dem ersten vom vergangenen September - das doch nie umgesetzt wurde. Trotzdem könnte die neue Vereinbarung den Weg aus der Krise weisen.
  • Klar ist: Das gesamte Abkommen steht und fällt mit der Einhaltung des vereinbarten Waffenstillstandes.
  • Hier eine Analyse der einzelnen Punkte.

Von Cathrin Kahlweit, Wien

Mehr war nicht drin", "Mini-Kompromiss", "keine Illusionen" - die ersten Reaktionen auf die Marathonverhandlungen von Minsk waren mehr als verhalten, sie waren zutiefst pessimistisch. Kein Wunder: Das erste Minsker Abkommen vom vergangenen September liest sich wie eine verblasste Vorlage und wurde doch auch nie umgesetzt.

Während der Verhandlungen und danach gingen die Kämpfe weiter. Und das Zutrauen in die Verlässlichkeit des russischen Präsidenten ist nach zig gebrochenen Zusagen längst verschwunden. Aber zu viel Pessimismus verstellt den Blick dafür, dass das neue Abkommen gut ist. Gut wäre. Wenn es umgesetzt wird. Eine Analyse der Vereinbarung Punkt für Punkt. (Den genauen Wortlaut des Abkommens lesen Sie hier.)

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Punkt 1: Der Waffenstillstand soll in der Nacht zum Sonntag in Kraft treten. Das ist bitter nötig, denn seit Ausbruch der Kämpfe sind fast 6000 Menschen umgekommen. Es steht zu befürchten, dass vorher noch mit aller Gewalt Fakten geschaffen werden. Fraglich ist auch, ob sich alle Kräfte daran halten - und damit auch jene, die sich womöglich an das Abkommen nicht gebunden fühlen.

Dazu könnten auf Seiten der Separatisten jene Freischärler und Kosaken-Milizen gehören, die sich den Führungen der "Donezker und Luhansker Volksrepubliken DNR und LNR" nicht unterwerfen. Auf ukrainischer Seite sind zwar mittlerweile große Teile der Freiwilligenbataillone in die Armeestrukturen eingebunden und Kämpfer, die sich dem Befehl des Generalstabs nicht unterstellen wollten, nach Angaben des Verteidigungsministeriums entwaffnet. Aber zum Beispiel beim Pravij Sektor, einer rechtsnationalen Truppe, dürfte die Bereitschaft, Kompromisse zugunsten der Separatisten einzugehen, sehr gering sein.

Punkt 2: Mit der Einhaltung des Waffenstillstandes aber steht und fällt der Rest des Abkommens. Dazu gehört, dass schwere Waffen so weit zurückgezogen werden, dass sie - je nach Reichweite - zwischen 50 und 140 Kilometer von der gegnerischen Seite entfernt stehen. Wohin genau, das definiert eine für Separatisten und ukrainische Armee jeweils unterschiedlich festgelegte Demarkationslinie. Kiews Soldaten sollen sich hinter die jetzige Kampflinie gen Westen zurückziehen, die prorussischen Milizen hinter die Frontlinie, die im vergangenen September festgelegt wurde.

Sollte das gelingen (und das dürfte der Punkt gewesen sein, gegen den sich DNR und LNR am meisten gesträubt haben), dann müssten die Separatisten ihre Artillerie aus erobertem Gebiet abziehen, aber die ukrainischen Soldaten dürften nicht nachrücken. So würde eine unterschiedlich breite Pufferzone entstehen - mit einem Niemandsland in der Mitte, das offiziell keiner Seite zugeschlagen wird und als künftige Verhandlungsmasse strittig bleibt.

Geht das gut, ist es ein stiller Coup: Dann würde der Vormarsch der Separatisten der vergangenen Wochen nicht belohnt, und Kiew müsste nicht bekanntgeben, dass es zusätzliches Land preisgibt. Die negative Variante: Um eben diese Zone wird womöglich weitergekämpft, weil ihr Status ungeklärt ist.

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Punkt 3: Die OSZE soll Rückzug und Waffenstillstand überwachen. Das ist theoretisch gut, denn die Beobachter haben sich Vertrauen auf beiden Seiten erarbeitet. Praktisch ist das aber ein Schwachpunkt der Vereinbarung, denn schon jetzt fehlen der Mission Drohnen und Satelliten, und bereits jetzt werden die Beobachter oft gehindert, umkämpfte Gebiete zu besuchen.

Punkt 4: Mit Beginn des Waffenstillstandes sollen Wahlen in DNR und LNR vorbereitet werden, die ukrainischem Recht entsprechen. Das stand auch schon im alten Abkommen, wurde aber mit den von Kiew und international nicht anerkannten Wahlen vom 2. November unterlaufen. Sollte es einen neuen Anlauf geben, soll die OSZE diese überwachen. Aber: Werden die Separatisten eine freie Wahl zulassen, mit der sie ihre Abwahl ermöglichen?

Das ukrainische Parlament soll zudem umgehend ein Gesetz erlassen, das den Status von Donezk und Luhansk gemäß der Frontlinie anerkennt, die im ersten Minsker Abkommen festgeschrieben wurde. Das ist zwar weniger, als die Separatisten jetzt besetzt halten (siehe Punkt 2), und insofern ein winziger Kompromiss zugunsten Kiews.

Aber es würde bedeuten, dass das Parlament grundsätzlich anerkennt, dass diese Region ein Eigenleben bekommt, wie immer das später ausgestaltet wird. Damit würden die Ansprüche der Gegenseite prinzipiell anerkannt. Welche Debatte das in der restlichen Ukraine auslösen wird und unter welchen Druck die Regierung geraten wird, ist leicht vorstellbar.

Punkt 5: Eine Verbeugung vor den Separatisten, denn der Punkt wiederholt das Angebot einer Amnestie. Diesmal sind aber, anders als im ersten Minsker Abkommen, schwere Verbrechen nicht ausgenommen; das Ganze klingt nach einer Generalamnestie für den Fall, dass DNR und LNR jemals wieder vollständig unter die Kiewer Rechtsprechung fallen. Auch auf diesem Punkt dürften die Separatisten bestanden haben.

Punkt 6: Der Austausch von Gefangenen war eine der wenigen Abmachungen, die schon bisher funktionierte. Petro Poroschenko ließ es sich nicht nehmen, persönlich darauf hinzuweisen, dass dieses Zugeständnis auch für die in Russland festgehaltene Nadja Sawtschenko gelten muss, gegen die im Frühjahr in Moskau ein Schauprozess eröffnet werden sollte. Sie gilt in der Ukraine als Heldin.

Punkt 7: Humanitäre Hilfe muss in Zukunft entsprechend internationalen Regeln ablaufen. Was wie eine Banalität klingt, war immer wieder Streitpunkt zwischen Kiew und Moskau, weil die Ukrainer den Russen vorwarfen, keine Ladelisten für ihre Konvois offenzulegen, um heimlich Waffen ins Land - und Särge mit toten russischen Soldaten aus dem Land zu transportieren.

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Am Ende stand wenigstens ein Waffenstillstand - wieder einmal: Doch bis sich die Verhandlungsparteien in der weißrussischen Hauptstadt auf diesen Minimalkonsens einigen konnten, war es ein langer Weg.

Punkt 8: Jetzt wird es richtig schwierig. Gleich mehrere Punkte beinhalten Rechte und Pflichten der Ukraine in den "Volksrepubliken", die sich als autonom und unabhängig erklärt hatten und langfristig einen Anschluss an Russland anstreben. Kiew soll mittelfristig wieder Behörden in die Region zurückverlegen, Renten auszahlen und Steuern einziehen.

Damit das möglich ist, müssten auch die Banken wieder eröffnen. Kiew hatte im Spätherbst alle Zahlungen eingestellt und alle Beamten abgezogen. Dass Rentner derzeit aus den "Volksrepubliken" ausreisen müssen, um an ihr Geld zu kommen, hatte den Hass auf "die in Kiew" zuletzt sehr geschürt.

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Punkte 9 - 13: Die Kontrolle über die Grenze zu Russland soll an die Ukraine zurückfallen - aber erst nach Lokalwahlen und einer Verfassungsreform. Demnach soll der Status der Gebiete also in Absprache mit der dortigen Führung festgelegt und eine Dezentralisierung von Kompetenzen eingeleitet werden.

Für Kiew ist das eine Wette auf die Zukunft: Würden bei diesen Wahlen tatsächlich proukrainische Kräfte gewinnen (was derzeit nicht wahrscheinlich ist), wären die Vereinbarungen wohl vertretbar. Bleiben DNR und LNR in den Händen prorussischer Kräfte, würde die Grenze offenbleiben. Und der Nachschub für den Krieg wäre gesichert.

© SZ vom 13.02.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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