Asylpolitik in Ungarn:Orbán gegen die "verlogene Welt"

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Ungarns Premier Viktor Orbán inszeniert sich als Kämpfer für eine stolze Nation. (Foto: REUTERS)
  • Fast siebzig Prozent der Ungarn unterstützen Orbáns scharfen Kurs in der Migrationspolitik.
  • Der Premier inszeniert sein Land als Insel der Vernünftigen in einer Welt, die aus den Fugen ist.
  • Seine Politik spiegelt einen Grundkonsens in der ungarischen Gesellschaft.
  • Auf Ausländer, die keine Christen sind, soll Ungarn hässlich, arm und feindselig wirken.

Von Cathrin Kahlweit

Glaubt man den Umfragen, macht Viktor Orbán alles richtig. Den Umfragen in seinem eigenen Land, wohlgemerkt. Knapp siebzig Prozent aller Ungarn unterstützen den scharfen Kurs des Premiers in der Migrationspolitik, die zum alles überwölbenden Thema geworden ist. Das hat auch Auswirkungen auf die Zustimmung zu Orbáns Partei: Mehr als ein Jahr lang verlor Fidesz dramatisch an Sympathie in der Gesamtbevölkerung und bei der eigenen Klientel. Die rechtsextreme Jobbik gewann Nachwahlen zum Parlament, stellte plötzlich Bürgermeister um Bürgermeister und gerierte sich als neue Volkspartei. Selbst die Zweidrittelmehrheit von Fidesz ging verloren.

Aber Orbán ist zurück. Mithilfe einer Politik, mit der er den Ungarn wieder - oder mehr denn je - zeigt: Ich schütze euch. Vor Flüchtlingen, vor Muslimen, vor der Überfremdung, der Unterwanderung, vor Brüssels Inkompetenz und Deutschlands Fehlern. Am Montag sagte der Premier vor Ungarns in Budapest versammelten Diplomaten laut der Zeitung Pester Lloyd: Je "stärker die Angriffe, desto resoluter" müsse das Land seinen Standpunkt vertreten. Mit "serviler Diplomatie" komme man nicht weiter. Neun Millionen Ungarn gegen eine, so Orbán, "verlogene Welt". Das zieht.

Ungarn als Insel der Vernünftigen in einer Welt, die aus den Fugen ist - das ist die Botschaft, die Orbán bei jedem seiner öffentlichen Auftritte verbreitet: Ungarn werde als Nation noch erstarken, wenn Europa als Idee schon längst gescheitert sei. Die aktuellen Bilder von der ungarisch-serbischen Grenze, wo immer wieder Hunderte Flüchtlinge aufgegriffen werden, stundenlang unter Polizeibewachung im Nirgendwo warten, dann ins Sammellager Röszke gebracht werden, bei Kälte und Regen im Freien übernachten, wo Flüchtende eingefangen und zurückgebracht werden - all diese Bilder dienen den Staatsmedien als Hintergrund für Orbáns Credo: "Sicherheit" vor "Schwäche".

Orbáns Politik spaltet das Land keineswegs - im Gegenteil: Sie einigt es

Doch es geht nicht nur um Umfragewerte. Die ungarische Regierung unter ihrem über die Jahre vom Jung-Liberalen zum Rechtspopulisten gewandelten Ministerpräsidenten baut nicht nur Zäune, schickt nicht nur Polizei und Militär an die Südgrenze und provoziert Rest-Europa, um innenpolitisch Unterstützung zurückzugewinnen. Orbáns Politik spiegelt vielmehr auch einen Grundkonsens in der ungarischen Gesellschaft - weshalb die Fidesz-Politik das Land nicht spaltet, wie es in anderen europäischen Gesellschaften mutmaßlich der Fall wäre, sondern eint.

Die "Hasskultur" zwischen Linken und Rechten, die der Schriftsteller György Dalos in den Nullerjahren in Ungarn ausmachte, ist seit 2010 der Dominanz der Nationalkonservativen gewichen. Und die versprengte linke Opposition wagt kaum, sich gegen die Flüchtlingspolitik Orbáns zu stellen. Schließlich, schreibt die sozialdemokratische Zeitung Népszabadság bitter, sei auch die "Wählerbasis der Sozialisten" in großen Teilen ausländerfeindlich.

Private Gruppen, Facebook-Initiativen, Vereine haben die Rolle der Mitfühlenden, Mitleidigen, der Helfenden übernommen. Kardinal Péter Erdő, Erzbischof von Budapest, antwortete auf die Frage, warum die Kirche nicht helfe, laut politics.hu allen Ernstes: "Die Geistlichkeit würde in die Rolle von Schleppern geraten, wenn wir Unterkünfte für Flüchtlinge bereitstellten."

Die neue ungarische Fidesz-Elite greift aber mit ihrer Politik auch auf ein Grundverständnis der Ungarn über Ungarn zurück, das wiederbelebt und neu beatmet wurde. Das Land mit seiner "tausendjährigen Geschichte", wie Orbán nicht müde wird zu betonen, hat im Kampf gegen die Habsburger und für einen unabhängigen Staat im 19. Jahrhundert einen enormen Nationalismus entwickelt, der bis in die Gegenwart hineinwirkt.

Wenn heute Jobbik-Politiker öffentlich von jenem Großungarn träumen, das mit dem Friedensvertrag von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg untergegangen war, dann formulieren sie nur explizit, was sich auch in der Regierungspolitik niederschlägt und den Applaus breiter Bevölkerungsschichten findet: Ungarn brauche keine Flüchtlinge und schon gar keine Muslime, heißt es in Budapest, um die Nation zu retten. Zwar läuft die gut ausgebildete Jugend davon, und die Geburtenrate befindet sich im Sturzflug. Retten sollen das Land aber im Zweifel "Auslandsungarn", also Bürger Serbiens, Rumäniens, der Ukraine und der Slowakei, die ungarisches Blut haben und sich als Magyaren fühlen. Migrationsträume auf ungarisch, samt Pässen und Wahlrecht.

Das Asylrecht wird künftig auf das Papier reduziert, auf dem es steht

Die Fidesz-Propaganda pflegt das Selbstbild einer stolzen, unbeugsamen Nation. Für Ausländer aber, zumal jene, die keine Christen sind, soll sie unattraktiv sein, hässlich, arm und feindselig wirken. Dass Tausende Flüchtlinge in Aufnahmelagern schlecht und an den Bahnhöfen gar nicht versorgt werden, ist Programm. Die Logik: Wer sich in die Lager begibt, erhält eine rudimentäre Grundversorgung, die gleichwohl so entwürdigend ist, dass sie abschrecken soll. Wer am Bahnhof hockt und nach Westen will, hat sich der Fürsorge des ungarischen Staates freiwillig entzogen.

Die neuen Gesetze, mit denen die Abschreckungswirkung des Zauns verstärkt werden soll, könnten die Südgrenze vom 15. September an in eine Art Kampfzone verwandeln: Eine abgeschirmte Quarantäne-Schneise für Migranten wird eingerichtet, Militär und Polizei sollen alle, die dann noch aus Serbien kommen, abfangen und zu Schnellgerichten bringen, wo theoretisch über Asylanträge entschieden wird, die aber praktisch nicht mehr gestellt werden können, weil Serbien für Ungarn als sicheres Drittland gilt. Damit ist das Asylrecht in Ungarn zwar nicht abgeschafft, aber auf das Papier reduziert, auf dem es steht.

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(Foto: Zoltan Mathe/AP)

Unzweideutige Botschaft: Flüchtlinge sind in Ungarn alles andere als willkommen - der Zaun bei Röszke an der Grenze zu Serbien.

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(Foto: Darko Vojinovic/AP)

Die in Ungarn regierende Fidesz-Partei hat ein Jahr lang Stimmen verloren. Der scharfe Kurs in der Migrationspolitik soll sie wieder erstarken lassen.

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(Foto: Dan Kitwood/Getty Images)

Deshalb möchte Ungarn Flüchtlinge, die wie hier meist über die serbisch-ungarische Grenze ins Land kommen, am liebsten gar nicht bei sich aufnehmen.

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(Foto: Marko Drobnjakovic/AP)

Um die Migranten fernzuhalten, gehört es zur Orbán-Propaganda, das Land nach außen hin unattraktiv, hässlich, arm und feindselig wirken zu lassen.

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(Foto: Marko Drobnjakovic/AP)

Die aktuellen Bilder von der Grenzregion (hier: Röszke) zeigen aufgegriffene Flüchtlinge, die stundenlang unter Polizeibewachung im Nirgendwo warten.

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(Foto: Marko Djurica/Reuters)

Bei Kälte und Regen müssen Flüchtlinge im Freien übernachten. Dass Tausende schlecht bis gar nicht versorgt werden, ist in Orbáns Ungarn Programm.

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(Foto: Marko Djurica/Reuters)

Sinnbildlich: Ein Vater steht in einem Aufnahmelager mit einem Kind auf dem Arm vor einem Feuer, um sich und den Jungen aufzuwärmen.

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(Foto: Matt Cardy/Getty Images)

Zwar stürzt die Geburtenrate Ungarns ab und die ausgebildete Jugend zieht weg, doch Ausländer, die keine Christen sind, sollen das nicht kompensieren.

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(Foto: Bernadett Szabo/Reuters)

In Budapest treffen trotzdem neue Flüchtlinge am Keleti-Bahnhof ein und warten auf einen Zug, der sie weiter in Richtung Deutschland bringen soll.

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(Foto: Marko Drobnjakovic/AP)

Menschenunwürdige Verhältnisse und hohe Polizeipräsenz sollen Flüchtlinge abschrecken. Mit dieser Politik hat Ungarn viele Bürger auf seiner Seite.

Mit dieser Politik hat Orbán die Konservativen ohnehin auf seiner Seite. Aber eben nicht nur die. Der international bekannte Historiker Krisztián Ungváry bekennt, auch er befinde sich in einem "moralischen Dilemma". Er leide mit den Flüchtlingen mit, aber er wisse nicht, wie das funktionieren solle, wenn noch Millionen nach Europa kämen, die anderswo schlechter lebten. "Orbán hat ein besseres Gespür als sehr viele Politiker", sagt Ungváry. "Auf die Dauer werden die Wähler anderswo das nämlich nicht mitmachen."

© SZ vom 09.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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