Großbritannien:Königreich der Taktiker

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Demonstrant gegen die Brexit-Pläne des britischen Premiers Johnson am Samstag in London. (Foto: AP)
  • Premierminister Johnson will sein Land notfalls auch ohne Abkommen aus der EU führen.
  • Die Opposition und einige Tory-Abgeordnete wollen dies um jeden Preis verhindern.
  • Im Vorfeld des Kräftemessens legen beide Seiten noch einmal massiv medial vor.

Von Cathrin Kahlweit, London

"Fragen Sie Michael Gove", sagte Keir Starmer, Schatten-Brexitminister der Labour-Partei, ein ums andere Mal, als er am Sonntag in der populären BBC-Talkshow von Andy Marr saß. "Fragen Sie Gove, ob die Regierung das Gesetz, das wir am Dienstag einbringen wollen, auch umsetzen wird. Fragen Sie ihn, ob die Regierung es hinnehmen wird, wenn das Parlament No Deal stoppt."

Michael Gove, offiziell mit dem eleganten Titel "Kanzler des Herzogtums von Lancaster" ausgestattet, de facto unter Boris Johnson jener Minister, der für die Umsetzung des Brexits sorgen soll, war in der Sendung nach Starmer an der Reihe. Marr fragte ihn, was die Regierung tun werde, wenn es die Opposition, gestützt durch eine Handvoll Tory-Rebellen, tatsächlich in dieser Woche in Windeseile schaffen würde, was sie angekündigt hat: den Tagesplan des Unterhauses mit Hilfe des Parlamentssprechers zu kapern; eine Notfall-Debatte zu erzwingen, in dieser ein Gesetz einzubringen, das der Regierung faktisch No Deal verbietet; dies dann auch im Unterhaus- wie Oberhaus bis Donnerstagabend zu verhandeln - und mit Mehrheit zu beschließen. Würde Johnson sich dieser Mehrheit und diesem Beschluss beugen?

Andrew Marr, ein erfahrener Journalist, fragte vier Mal nach. Er bekam keine Antwort. Man warte ab, so Gove, was die Opposition da vorlege und aufführe. Marr, sichtlich irritiert, fragte weiter: Aber die Regierung werde doch sicherlich nicht das Gesetz brechen, wenn ein Gesetz vom Parlament beschlossen werde, das ihr nicht passe? Minister Gove lächelte wissend und verweigerte die Antwort. Britische Medien titelten am Montag prompt: "Johnson bereit, das Gesetz zu ignorieren, um Brexit am 31. Oktober durchzubringen".

Es wird immer deutlicher: Downing Street hat, angeführt von Johnsons kampagnenerfahrenem und machtbewusstem Berater Dominic Cummings, dessen Handschrift das radikale Vorgehen der Regierung trägt, einen Fahrplan für die kommenden Wochen vorbereitet, in dem Abweichungen von den Spielregeln in Westminster nicht nur eingepreist, sondern eingeplant sind. Johnson will den Brexit, er will damit in die Geschichte eingehen, er will ihn gegen große Teile des Parlaments, gegen Widerstand in Teilen seiner Partei und gegen den Protest auf der Straße erzwingen.

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Premierminster Johnson will sein Land auch ohne Abkommen aus der EU führen, die Opposition und einige Tories wollen dies um jeden Preis verhindern.

Deshalb werden derzeit zahlreiche Maßnahmen durchgespielt, die zu einer weiteren Eskalation der Lage beitragen dürften. Dazu gehört, dass Johnson jene Tory-Abgeordneten, die gegen ihn und mit der Opposition stimmen wollen, offenbar bestrafen will. Ihnen wurde gedroht, dass sie nicht wieder aufgestellt oder sogar aus der Partei hinausgeworfen würden. Ein für diesen Montag vorgesehenes Treffen der sogenannten Tory-Rebellen mit Johnson wurde von Downing Street mit Verweis auf Terminprobleme abgesagt.

Seine Kritiker sagen: Johnson will Tories in Partei des harten Brexit verwandeln

Die Gruppe um Ex-Justizminister David Gauke und Ex-Finanzminister Philip Hammond, die beide unter der letzten Premierministerin Theresa May dem Kabinett angehört hatte, zeigte sich empört. Hammond hatte schon am Wochenende von "Heuchelei" gesprochen und festgestellt, der aktuellen Regierung gehöre schließlich auch eine Handvoll Minister an, die unter May gegen die Regierung gestimmt hätten und dafür nicht abgestraft worden seien.

Gauke sagte am Montagmorgen in der BBC, Johnson wolle - unter anderem mit dieser präzedenzlosen Strafaktion - die Konservative Partei in eine Partei des harten Brexits transformieren. Es habe keinen Kontakt mit Downing Street gegeben, niemand habe mit den Opponenten des Johnson-Kurses das Gespräch gesucht oder Überzeugungsarbeit geleistet. Er selbst sei, wie die anderen Gegner eines No Deals in seiner Partei, durchaus für den Brexit gewesen und habe auch dreimal im Parlament für das Austrittsabkommen gestimmt. Er werde, wie viele andere Kollegen auch, sich aber nun von der Strafaktion nicht beeindrucken lassen; es sei jetzt die Zeit, die Staatsräson über die politische Karriere zu stellen. Außerdem führe Johnson das Land in die Irre, wenn er behaupte, ein Deal mit Brüssel sei in greifbarer Nähe. Weil die Zeit für Verhandlungen zu kurz sei und weil Downing Street bisher in Brüssel keinerlei neue Vorschläge vorgelegt habe, liege die Gefahr von No Deal bei 95 Prozent.

Die Gruppe um Gauke, die in London unter dem Spitznamen "Gaukeward Squad" firmiert, will daher mit der Opposition stimmen und dieser so möglicherweise eine Stimmen-Mehrheit verschaffen. Hat die Opposition das No-Deal-Verhinderungsgesetz erst eingebracht, überlegt das Team um Cummings dem Vernehmen nach deshalb, das Votum durch taktische Maßnahmen aufzuhalten; dazu könnte das Filibustern im Oberhaus gehören. Denn wenn das Gesetz nicht bis zum Beginn der "Prorogation", der für kommende Woche angesetzten Zwangsschließung des Parlaments, durch alle Lesungen gegangen und beschlossen ist, ist es nichtig - so sind die Regeln. Möglich ist offenbar auch, dass Johnson, sollte ihm das Unterhaus eine Verschiebung des Brexitdatums aufzwingen, in Brüssel selbst dagegen stimmen und diesen Aufschub so verhindern würde. Alternativ, berichtet die Times, könne Johnson einen Mittelsmann, etwa Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán, um sein Nein bitten.

Sollte das Parteienbündnis, dem Labour, Liberaldemokraten, Grüne, schottische Nationalpartei und Plaid Cymru angehören, erfolgreich sein, wird in Downing Street aber auch überlegt, die Queen nicht um ihre "royale Zustimmung" zu bitten. Damit könnte das Gesetz nicht in Kraft treten. Alternativ könnte Johnson im Falle einer Abstimmungsniederlage Neuwahlen ausrufen und diese so terminieren, dass sie knapp vor oder nach dem 31. Oktober stattfinden - und der harte Brexit nicht mehr aufzuhalten wäre. Labour-Politiker Keir Starmer deutete allerdings an, dass man eventuell genau deshalb gegen vorgezogene Neuwahlen stimmen würde.

Im Vorfeld des Kräftemessens hatten am Wochenende beide Seiten noch einmal massiv medial vorgelegt. Johnson selbst gab der Sunday Times ein Interview, in dem er behauptete, jeder, der sich gegen seinen Kurs stelle, wolle in Wahrheit "das Referendum von 2016 verwerfen, den demokratischen Willen des Volkes ignorieren und das Land ins Chaos stürzen". Einen Deal mit Brüssel könne er nur aushandeln, wenn nicht die Gefahr drohe, dass Westminster den "Brexit blockiere". Der Premier beharrt darauf, dass es gute Chancen für diesen Deal gebe.

Michael Gove beharrte am Sonntag darauf, dass die Gespräche in Berlin und Paris ein Beweis für die Aufweichung der Verhandlungsposition in der EU gewesen seien. Dem widersprach allerdings, mittelbar, im "Sunday Telegraph" EU-Unterhändler Michel Barnier. In einem Meinungsstück erläuterte er sehr deutlich, dass der Backstop, die Auffanglösung für Nordirland, nicht verhandelbar sei. Brüssel werde nur mit London über alternativen Lösungen verhandeln, nachdem das Austrittsabkommen unterschrieben sei.

© SZ vom 02.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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