Großbritannien:Viel Lärm um alles

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Will sich nicht stoppen lassen: Boris Johnson (Foto: via REUTERS)
  • Nach dem britischen Unterhaus hat auch das Oberhaus dem Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit zugestimmt.
  • Einen zweiten Antrag auf vorgezogene Neuwahlen am 15. Oktober wollen die Oppositionsparteien im Parlament erneut nicht passieren lassen.
  • Die Oppositionsparteien überlegen, für wann sie einen Neuwahltermin ansetzen möchten. Wahlforscher sehen die Tories deutlich vor Labour.

Von Cathrin Kahlweit, London

Wenn man den Vertretern der Oppositionsparteien im britischen Unterhaus zuhört, könnte man meinen, sie hätten alle das gleiche Skript auswendig gelernt. Die ungewohnte Einigkeit rührt daher, dass sie Boris Johnson mit seiner Tory-Regierung genau in der Ecke haben, in der sie ihn haben wollten: unter Druck, ohne Plan B, und auf absehbare Zeit auch ohne Chance, die Neuwahlen durchzusetzen, die er als Premier einer Minderheitsregierung doch so dringend braucht.

Manch einer in der Labour-Partei, bei den Liberaldemokraten oder in den Regionalparteien reibt sich vermutlich die Augen, weil das so schnell gegangen ist. Am 24. Juli hatte die Queen Johnson im Buckingham Palace den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt. Am 28. August genehmigte Elizabeth II. die Entscheidung Johnsons, das Parlament in eine Zwangspause zu schicken. Sein Chefberater, Dominic Cummings, ließ die Kritiker des Premiers wissen, sie hätten jetzt keine Macht und keine Möglichkeit mehr, den Brexit noch aufzuhalten. Und jeden Tag aufs Neue verkündete Johnson, das Königreich werde am 31. Oktober aus der EU austreten - das sei in Stein gemeißelt.

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In Stein gemeißelt sind zwar im Westminster-Palast, dem Sitz des Parlaments, die Namen aller früheren Premierminister, und auch der von Johnson wird dort über kurz oder lang stehen. Aber viele seiner politischen Gegner beginnen zu hoffen, dass sein Rücktritt schneller kommen könnte als erwartet. Johnson hat keine Mehrheit mehr, nachdem er in der vergangenen Woche 21 Tory-Abgeordnete aus der Partei geworfen, ein ehemaliger Parteifreund die Seite gewechselt - und mittlerweile aus Protest gegen seinen No-Deal-Kurs eine Handvoll Tories angekündigt hat, bei der nächsten Wahl nicht mehr antreten zu wollen.

Das No-Deal-Vermeidungsgesetz, das die in vielen anderen Fragen uneinige Opposition zusammengeschweißt hat, durchlief am Freitag die letzten Stadien seiner Beschlussfassung im Oberhaus, nachdem es in rasanter Geschwindigkeit das Unterhaus passiert hatte. Der größte Schlag aber dürfte am kommenden Montag erfolgen: Die versammelten Oppositionsparteien wollen erneut ihre Kräfte bündeln und den zweiten Antrag auf vorgezogene Neuwahlen, den Johnson vorlegen möchte, entweder niederstimmen oder sich enthalten. Einen ersten Anlauf hatte der Premier am Mittwoch ohnehin schon verloren.

Was bleibt ihm nun zu tun? Bei einem katastrophal verlaufenen Auftritt vor Polizeikadetten in Yorkshire am Donnerstag, bei dem er sich - offenbar unter anderem schockiert durch den Rückzug seines Bruders Jo aus dem Kabinett - durch eine chaotische Rede stotterte und die Empörung der Polizeiführung auf sich zog, weil er Polizisten zu Wahlkampfstatisten machte, blieb er dennoch im Angriffsmodus. Bei mehreren Treffen mit Fischern und Farmern in Schottland betonte Johnson, er lasse sich nicht stoppen, er werde in Brüssel einen Deal aushandeln, und dann werde das Königreich am 31. Oktober austreten.

Das mit dem Deal ist aber so eine Sache. Das No-Deal-Vermeidungsgesetz zwingt ihn, entweder einen Kompromiss mit Brüssel zu finden oder eine Verschiebung des Brexit zu beantragen. Aus der EU ist allerdings zu hören, dass Johnsons Unterhändler David Frost bei mehreren Treffen in der vergangenen Woche eher weniger als mehr angeboten habe: Er habe zum Erstaunen der Gegenseite, verlautet aus Briefings der EU-27, den von Theresa May ausgehandelten Vertrag vorgelegt, in dem schlicht jene Teile weggestrichen waren, die mit dem Backstop, der Auffanglösung für Nordirland, zu tun haben. Konstruktive oder neue Vorschläge seien aus London nicht gekommen.

Wahlforscher: Tories deutlich vor Labour

Derweil müssen die Oppositionsparteien nun entscheiden, für wann sie einen Neuwahltermin ansetzen möchten. Einerseits will Labour Johnson die Demütigung nicht ersparen, in Brüssel doch noch um Aufschub bitten zu müssen. Andererseits fürchten Teile der Parteiführung, dass Johnson dann bis zu zwei Monate lang Zeit haben könnte, als Premier Werbung in eigener Sache zu machen und auch die Brexit-Befürworter in der Labour-Partei auf seine Seite zu ziehen. Labour-Chef Jeremy Corbyn ist ein weiterer Unsicherheitsfaktor in der Planung: Seine Beliebtheitswerte liegen weit hinter denen von Johnson, und auch in der eigenen Partei hat er viele Feinde.

Wahlforscher sehen die Torys, trotz des umstrittenen Kurses des Premiers, bei 35 Prozent und damit noch immer etwa zehn Punkte vor Labour. Derzeit ist alles im Fluss: Die Liberaldemokraten, die sich eindeutig für Remain und eine Widerrufung des Brexit-Beschlusses aussprechen, könnten Labour Stimmen wegnehmen; aber auch die Tories könnten Stimmen an die Brexit-Partei des Rechtspopulisten Nigel Farage verlieren, wenn Johnson No Deal nicht liefern kann.

© SZ vom 07.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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