Klassikkolumne:Keine Tastentheoretiker

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Daniil Trifonov beim Klassikfestival Bad Wörishofen im Jahr 2020. (Foto: imago images/MiS)

In Salzburg und Bayreuth hört man derzeit die großen Klassik-Stars. Aber nicht alle sind dort zu finden. Einige haben sich ins Studio zurückgezogen und kommen nun mit großartigen Aufnahmen wieder ans Licht.

Von Helmut Mauró

Im Schatten der großen Theater- und Opernaufführungen bieten die Salzburger Festspiele auch dem Klavierliebhaber immer herausragende Solisten, oft mit überraschend neuen Programmen. Neben alt bekannten Stars wie Maurizio Pollini, Grigory Sokolov oder Evgeny Kissin ist es diesmal Daniil Trifonov, der am 23. August mit Johann Sebastian Bachs "Die Kunst der Fuge" auf sich aufmerksam macht. Er hat dieses opus summum Bachs während des ersten Corona-Lockdowns im April 2020 auf einem nicht gerade konzerttauglichen Flügel einer Musikschule in Santo Domingo gespielt, allein in einem großen Saal, aufgenommen mit einer Telefonkamera, ungeschützt in die Welt gestreamt zu einer Zeit, als man nicht wusste, wann die Künstler wieder reisen und öffentlich auftreten würden. Dieses ganz private Konzert ohne den großen Bühnenglamour war ein musikalisch-persönliches Ereignis, ein ungewohnter Einblick in tiefere mentale Schichten. Im Februar 2021 hat er Bachs komplexe und oft nur als mathematisches Konstrukt gespielte "Kunst der Fuge" dann in Berlin eingespielt; die CD soll am achten Oktober erscheinen.

(Foto: N/A)

Wem Bayreuth näher liegt als Salzburg, mag sich einer Neuaufnahme von Wagner-Liedern widmen. Das eigentlich Verblüffende dieser Aufnahme ist nicht unbedingt, dass Richard Wagners Wesendonck-Lieder hier von der wunderbaren Altistin Sara Mingardo auf Italienisch gesungen werden, sondern dass sie in der Orchesterfassung von Hans Werner Henze (Brilliant Classics) erklingen, nicht in der gewohnten von Felix Mottl. Henze sucht die Nähe zum Wort, nicht zum Wortklang, sondern eher zur gestischen Gestalt als Verweis auf Wortinhalt und Stimmungslage. Offenbar plagen ihn große Bedenken, zu viel des Guten zu Instrumentieren, zu pauschal vorzugehen. Und so tut er das einzig Richtige: Er folgt dem eigenen Wort-Musik-Verständnis und einer ungeheuren Präzision im Einsatz der Instrumente. Auch die stehen nicht symbolisch für Inhalte, sondern wirken - bei aller detailverliebten Konzeption - eher unbewusst, sprechen Verstandes- und Gefühlsbereiche an, auf die auch Wagner mit diesen Liedern zielte. Das Orchestra di Padova e del Veneto unter Leitung von Marco Angius trifft Henzes Ton zwischen romantischem Überschwang und Gefasstheit perfekt.

(Foto: N/A)

Er braucht eine Weile, um sich musikalisch warm zu spielen, um sich in den Klangwolken von Frederic Chopin wohl zu fühlen. Dessen Nocturnes beschreiben eine ganz eigene, eigentümliche Welt aus Nähe und Distanz, Intimität und Weite. Der kanadische Pianist Jan Lisiecki wirkt da anfangs noch sehr verhalten, oft nahezu mehr die Noten buchstabierend als in einen emotionalen Fluss bringend (DG). Nach und nach aber schwinden die Bedenken, treten die ausgedachten Konzepte in den Hintergrund, und es stellt sich jener Zustand befreiten Spiels ein, den Lisiecki in jungen Jahren in aller Unbefangenheit praktizierte, als er die individuelle Klangsprache Mozarts und Chopins intuitiv erfasste und bedenkenlos zum Besten gab. Etwa in Mozart-Klavierkonzerten mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Diesen Zustand gilt es unbedingt wieder als konzertanten Dauerzustand zu erreichen. Denn Lisiecki ist kein Tastentheoretiker, kein Intellektueller mit Klavierbegabung, sondern ein Gemütsmusiker, der seinen Mitmenschen wie auch der Musik mit Unbefangenheit und Freundlichkeit begegnet. Oberflächlich ist das nicht, aber es verlangt ein hohes Maß an Selbstgewissheit, das offenbar nicht immer mit der nötigen Demut gegenüber dem Werk vereinbar ist. Was anderen Pianisten im Übermaß an Selbstsicherheit gegeben ist, muss sich Lisiecki, so scheint es auf diesem Doppelalbum, Stück für Stück erarbeiten. Die selbstverständliche Eleganz des fließenden Melos, die diese verschatteten Nachtstücke zu der Chopin eigentümlichen Kongruenz von Trauer und Optimismus bringt, ist denn auch eher eine mentale Fingerübung, die Lisiecki so richtig erst in den letzten drei nachgelassenen Nocturnes gelingt. Er kann es also.

(Foto: N/A)

Krystian Zimerman liefert zum verlängerten Beethoven-Jahr dessen Klavierkonzerte nach (DG). Es ist eine der Maßstab setzenden Aufnahmen dieser Werke geworden, nicht revolutionär modern, eher traditionelle musikalische Auffassungen beschwörend. Aber: Zimerman, Simon Rattle und das London Symphony Orchestra bilden eine derart konzise musikalische Symbiose, dass alles wie natürlich entsteht: fein ziselierte Klanggespinste, lyrische Entrückheiten ebenso wie dramatische Hochspannung und verschwenderisches Musizieren. Es ist die enorme Konzentriertheit, die mentale Verdichtung, die alles zusammenhält und verhindert, dass die Allegro-Kaskaden und virtuosen Akkordketten auseinanderfliegen. Höhepunkte bleiben aber natürlich die langsamen Sätze dieser Konzerte, das ist klar.

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