NS-Zeit im Landkreis Starnberg:Evangelische Akademie: Spurensuche in eigener Sache

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Die Tutzinger Bildungseinrichtung sucht nach Hinweisen zu Verbleib und Herkunft von Kunstgegenständen aus dem Schloss.

Von Peter Haacke, Tutzing

Einen unerschütterlichen Ruf als Ort, an dem offen und frei diskutiert werden kann, hat sich die Evangelische Akademie Tutzing erarbeitet. In ihrem Selbstverständnis verpflichtet sich das Institut zur "Toleranz der Weltoffenheit" auf der Suche nach Lösungen in der Zivilgesellschaft, seither trafen sich nach dem Zweiten Weltkrieg ungezählte Politiker der ersten Stunde in dieser "Denkwerkstatt am Starnberger See", um die Weichen für die bundesdeutsche Demokratie zu stellen. Das jüngste Forschungsprojekt der Akademie indes richtet den Blick ein Stück weit zurück auf die eigene Geschichte: Im Fokus des wissenschaftlichen Interesses steht Schloss Tutzing, seit 1947 Sitz der Evangelischen Akademie, um Licht in eines der dunkelsten Kapitel des Hauses zu bringen. Als eine der ersten kirchlich getragenen Einrichtungen erhält die Akademie vom "Deutschen Zentrum Kulturgutverluste" Mittel, um Objekte auf NS-verfolgungsbedingten Entzug zu untersuchen. "Wir sind sehr gespannt, was am Ende dabei herauskommt", sagt Akademie-Direktor Udo Hahn.

Ein Jahr lang wird die Berliner Kunsthistorikerin Tamara B. Schramm die Geschichte von Schloss Tutzing von 1930 bis 1949 erforschen, insgesamt 84 000 Euro stehen für die Provenienzforschung zur Verfügung. Dabei geht es nicht allein um den aktuell im Schloss existierenden Bestand an Kulturgut. Lediglich 49 bis 53 Kunstobjekte, Gemälde und Skulpturen finden sich noch - ein Bruchteil dessen, was einst vorhanden war. Vom ursprünglichen Mobiliar und den Kunstgegenständen ist nur noch wenig in Tutzing vorhanden, viele Exponate verschwanden spurlos: Manches wurde auf Auktionen versteigert, anderes Museen übereignet oder verkauft. Zudem soll es bei Kriegsende diverse Plünderungen gegeben haben, teils durch deutsche Soldaten, teils durch Alliierte, teils durch die Bevölkerung.

Im Mittelpunkt der historischen Forschung steht das Schicksal von drei Persönlichkeiten, denen das Schloss zeitweise gehörte: der ungarisch-jüdische Kunstsammler Marczell von Nemes (1866-1930), der Industrielle und ehemalige Zentrumspolitiker Albert Hackelsberger (1893-1940), der von den Nazis verfolgt wurde, sowie Oetker-Chef Richard Kaselowsky (1888-1944). "Es gibt viele Fragen, die uns beschäftigen", sagt Hahn. Neben einer umfassenden Begutachtung des gesamten Schlosses und seiner Kulturgüter sollen Akten und Unterlagen studiert werden. Auf der Suche nach dem Kaufvertrag zwischen Familie Oetker und der Evangelischen Landeskirche aus dem Jahr 1949 war eine Inventarliste, die den gesamten Bestand zum Zeitpunkt der Übernahme dokumentiert, nicht mehr auffindbar. Geprüft werden sollen Auktionskataloge von 1931 bis 1940 sowie vorhandene Sekundärliteratur zu Schloss Tutzing. Als hilfreich bei den anstehenden Forschungsarbeiten könnte sich auch die Durchforstung der "hauseigenen Archive" der Akademie sowie eine Begutachtung von Keller und Dachboden des Schlosses erweisen. Weitere Hiweise auf Herkunft und Verbleib von Kunstgegenständen und Gemälden erhofft man sich vom Archiv der Familie Oetker, der Stiftung Oetker und dem Archiv der Familie Hackelsberger.

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(Foto: privat)

Graf Friedrich von Vieregg (1752-1843) ist die heutige Form des Tutzinger Schlosses zu verdanken: Er gestaltete Gebäude und Parkanlagen zu Beginn des 19. Jahrhunderts um. 1869 erwarb es der Stuttgarter Verleger Eduard von Hallberger. Seine Erben konnten den Besitz jedoch nicht halten. 1921 erwarb es der ungarisch-jüdische Finanzmagnat Marczell von Nemes: Ein fanatischer Kunstsammler mit unglaublich breit angelegtem Sammlerbedürfnis. Nemes kaufte Gemälde der italienischen, flämischen und niederländischen Malschulen ebenso wie Werke von Courbet bis van Gogh. Hinzu kamen Möbel, Kleinkunst, Kunstgewerbe, Tafelsilber, Schmuck, Wandbehänge, Teppiche, Stoffe und Talare, Sarkophage, Brunnen, Skulpturen oder Kamine. Als Nemes 1930 hoch verschuldet starb, verwaltete sein Erbe als Testamentsvollstreckerin die Dresdner Bank, die mit Machtergreifung der Nazis im Zuge der "Arisierung des Bankenwesens" aber zunehmend unter Druck geriet. 1936 kaufte der Industrielle (Weck-Gläser) und Zentrumspolitiker Albert Hackelsberger das Anwesen als Sommersitz für seine Familie. Er geriet nachhaltig in den Fokus des NS-Regimes: Am 20. September 1938 wurde Hackelsberger auf Schloss Tutzing von der Geheimen Staatspolizei verhaftet. Nach einem Zwischenaufenthalt in München kam er ins Freiburger Untersuchungsgefängnis, vorgeworfen wurden ihm "Volksverrat" und "Devisenvergehen". Auf ausdrücklichen Wunsch Hermann Görings wurde das gesamte Vermögen Hackelsbergers und seiner Familie beschlagnahmt und unter "Treuhänderschaft" des NS-Staates gestellt. 1940 starb Hackelsberger in Einzelhaft. Das Berliner Auktionshaus Lange versteigerte noch im gleichen Jahr die "Kunstsammlungen Schloss Tutzing". Das Schloss erwarb nun ein Groß-Industrieller, um ein Erholungsheim für Mitarbeiter daraus zu machen: Richard Kaselowsky hatte nach dem Ersten Weltkrieg die Witwe seines Freundes Rudolf Oetker geheiratet und übernahm 1920 faktisch die Führung der Firma Oetker. Mit Machtergreifung der Nazis wurde Kaselowsky schon 1933 NSDAP-Mitglied und erfreute sich durch Mitgliedschaft im "Freundeskreis Heinrich Himmler" fortan höchster Unterstützung der Partei-Eliten. "Ob die engmaschigen Beziehungen Kaselowskys zur Waffen-SS, welche Albert Hackelsberger seit 1936 überwacht und bespitzelt hatte, und zum Freundeskreis Himmler, dessen Mitglied er war, ihn im Sinne einer Vorteilsnahme bevorzugt von dem 'Objekt Schloss Tutzing' in Kenntnis setzten, wäre zu eruieren und zu klären", erklärt dazu Udo Hahn. Der Verkauf von Hab und Gut der Familie Hackelsberger könnte ein neues Licht auf diesen Vorgang werfen, bislang liegen hierzu keine Forschungsergebnisse vor. 1949 erwarb die Evangelische Landeskirche Bayern für 350 000 D-Mark das Tutzinger Schloss, das schon seit 1947 Sitz der Evangelischen Akademie ist.

Zum Auftakt des Projektes soll zunächst der gesamte Bestand von Schloss Tutzing systematisch erfasst und auf objektspezifische Provenienzmerkmale hin untersucht werden. Danach folgt die Sichtung, Auswertung und Analyse der vorhandenen Quellen sowie eine Nachrecherche auf Basis der Ergebnisse. Das gesamte Forschungsvorhaben soll nach Abschluss der Arbeiten auf der Webseite der Evangelischen Akademie dokumentiert werden. Geplant sind Veranstaltungen, Ausstellungen und Tagungen zum Thema Provenienzforschung und der eigenen historischen Aufarbeitung. "Wir möchten Licht ins Dunkel der NS-Geschichte bringen", sagt Akademiedirektor Hahn.

Die Evangelische Akademie Tutzing, die 2015 und 2019 zwei Seminare den Themen "Raubkunst" und "Koloniales Erbe" widmete, forscht somit in eigener Sache. Bislang hat laut Hahn keiner der Nachfahren Entschädigungsansprüche gegenüber der Evangelischen Kirche Bayern geltend gemacht. Ein Exponat aus der einst üppigen Tutzinger Kunstsammlung kehrte unlängst jedoch an seinen Ursprungsort zurück: Zum Gedenken an Albert Hackelsberger kamen anlässlich seines 81. Todestages am 25. September Angehörige der Familie in der Evangelischen Akademie Tutzing zusammen. Seine jüngste Tochter, die heute 84-jährige Birgitta-Maria Hackelsberger, erfüllte ihr Versprechen aus dem Vorjahr, ein Gemälde, das die Familie aus ihrer Zeit im Schloss bewahrt hatte, der Evangelischen Akademie vererben zu wollen: Das "Bildnis einer jungen Dame" von Sir Thomas Lawrence (1769-1830).

© SZ vom 13.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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